zurück
Ermershausen
"Keiner schämte sich seiner Tränen": Wie die Ermershäuser nach langem Kampf ihre Unabhängigkeit zurückerhielten
15 Jahre lang war Ermershausen Teil der Marktgemeinde Maroldsweisach. Doch die Bürgerinnen und Bürger setzten sich erfolgreich gegen die Eingemeindung zur Wehr.
Adolf Höhn wurde zur Leitfigur im Ermershäuser Freiheitskampf. Hier steht er 1980 bei einer Protestversammlung vor dem Rathaus auf einer Leiter und spricht zu den Bürgerinnen und Bürgern. Hinweis: Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
Foto: Archiv Ermershausen, Repro Werner Mock | Adolf Höhn wurde zur Leitfigur im Ermershäuser Freiheitskampf. Hier steht er 1980 bei einer Protestversammlung vor dem Rathaus auf einer Leiter und spricht zu den Bürgerinnen und Bürgern.
Werner Mock
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:20 Uhr

Jubelschreie aus den Kehlen Hunderter Ermershäuserinnen und Ermershäuser tönten über den Rathausplatz, als die Kirchenglocken 1994 das Neue Jahr einläuteten. Der Grund für die große Freude: Die Gemeinde Ermershausen hatte nach 15 Jahren ihre Selbstständigkeit wiedererlangt, nachdem sie zuvor am 1. Mai 1978 in den Markt Maroldsweisach eingemeindet worden war.

Brigitte Lüdecke, Verwaltungsangestellte, erlebte das Geschehen von der ersten Stunde an mit. Sie erinnert sich: "Seit Generationen ist es Tradition, dass sich die Bevölkerung in der Silvesternacht am Rathaus trifft. Doch dies war eine besondere Nacht. Unbeschreiblich, Gänsehaut pur. Das war emotional das Höchste, da gab es keine Steigerung mehr, als der Posaunenchor den Choral 'Nun danket alle Gott' anstimmte, sich Hunderte Menschen auf dem Platz umarmten und sich keiner seiner Tränen schämte."

Auch der Vorkämpfer in Sachen Selbstständigkeit, Adolf Höhn, konnte wie viele andere in dieser besonderen Silvesternacht seine Tränen nicht zurückhalten. "Auf diesen Tag haben wir 15 Jahre gewartet, gehofft und gekämpft, um unser Recht und unsere Freiheit wiederzuerhalten", erklärte Höhn damals.

Anlässlich des 30. Jahrestags der wiedergewonnenen Ermershäuser Unabhängigkeit hat die Redaktion einen stichpunktartigen Blick auf die Ereignisse von damals, aber auch auf die Gegenwart geworfen:

1. Kampf für die Unabhängigkeit: Die Ermershäuser zeigten sich beharrlich

In der Nacht auf den 19. Mai 1978 kam es in Ermershausen zu einem großen Polizeieinsatz. Rund 200 Polizisten stürmten das Rathaus, zahlreiche weitere waren vor Ort im Einsatz. Hinweis: Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
Foto: Archiv Ermershausen, Repro Werner Mock | In der Nacht auf den 19. Mai 1978 kam es in Ermershausen zu einem großen Polizeieinsatz. Rund 200 Polizisten stürmten das Rathaus, zahlreiche weitere waren vor Ort im Einsatz.

Ab dem 1. Mai 1978 bestand die bis dahin selbstständige politische Gemeinde Ermershausen als solche nicht mehr: Ermershausen sowie auch Birkenfeld und Dippach wurden Ortsteile Maroldsweisachs. Womit jedoch niemand in der Bayerischen Staatsverwaltung gerechnet hatte: Die Ermershäuser Bürgerinnen und Bürger gaben nicht klein bei, sondern wehrten sich, indem sie den Zugang zum Rathaus besetzten, um das Abholen von Akten aus diesem zu verhindern. In der Nacht auf den 19. Mai 1978 stürmten schließlich rund 200 Polizeibeamte das Rathaus, um sich Zugang zu den Akten zu verschaffen. Die Einwohnerinnen und Einwohner hielten diesen Einsatz für unangemessen, er brachte das Fass zum Überlaufen und bestärkte sie darin, ihren Protest fortzusetzen. In ganz Ermershausen machte die Bevölkerung ihrem Unmut Luft, indem sie jahrelang protestierte, Wahlen boykottierte und Plakate sowie Transparente aushing.

2. Metzgermeister Adolf Höhn: Die zentrale Figur des Ermershäuser Freiheitskampfs

Adolf Höhn, der von 1972 bis 1978 und dann noch einmal von 1994 bis 2002 Bürgermeister in Ermershausen war, war die treibende Kraft des Ermershäuser Protests gegen die Eingemeindung. Hinweis: Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
Foto: Archiv Ermershausen, Repro Werner Mock | Adolf Höhn, der von 1972 bis 1978 und dann noch einmal von 1994 bis 2002 Bürgermeister in Ermershausen war, war die treibende Kraft des Ermershäuser Protests gegen die Eingemeindung.

Er wurde schon zu Lebzeiten zur Legende: Adolf Höhn, Leitfigur und leuchtendes Vorbild, der die Auflösung der Gemeinde Ermershausen nicht hinnahm. Von Beginn an wehrte er sich gegen die Eingemeindung in die Gemeinde Maroldsweisach und nahm dafür alle Rechtsmittel in Anspruch. Während des massiven Polizeieinsatzes in der Nacht auf den 19. Mai 1978, wo er immer wieder zum Frieden mahnte, wurde Adolf Höhn zur Leitfigur und zum unermüdlichen Streiter in dem beginnenden Freiheitskampf. Er übernahm die Führung der Bürgergemeinschaft, die fortan das inoffizielle Verwaltungsorgan für die Einwohnerinnen und Einwohner bildete, die sich den neuen Gegebenheiten nicht ohne Weiteres fügen wollten. Adolf Höhn blieb über die gesamten 15 Jahre der Motor und der Hoffnungsträger des Ermershäuser Freiheitskampfs.

3. Cleverer Schachzug: Sebastian Freiherr von Rotenhan als Unterstützer

Sebastian Freiherr von Rotenhan, der für die CSU von 1998 bis 2008 im Bayerischen Landtag saß, spielte auch in der Ermershäuser Geschichte eine Rolle.
Foto: Frank Mächler, dpa/lby | Sebastian Freiherr von Rotenhan, der für die CSU von 1998 bis 2008 im Bayerischen Landtag saß, spielte auch in der Ermershäuser Geschichte eine Rolle.

Nachdem 1989 der Bayerische Landtag einen Antrag auf Ausgliederung abgelehnt hatte, wählte Ermershausen einen anderen Weg: Unterstützt von CSU-Kreisrat Sebastian Freiherr von Rotenhan trat die Mehrheit der Ermershäuserinnen und Ermershäuser in die CSU ein. Als nun größter Ortsverband der Partei im Landkreis Haßberge konnte Ermershausen sich so gewichtiges, neues Gehör verschaffen.

4. Ort der Demokratie: Die Lehren aus der Ermershäuser Geschichte

Freiheitsglocke und Gedenkstein erinnern auf dem Platz vor dem Rathaus in Ermershausen an den Freiheitskampf.
Foto: Eberhard Schellenberger, BR-Studio Mainfranken | Freiheitsglocke und Gedenkstein erinnern auf dem Platz vor dem Rathaus in Ermershausen an den Freiheitskampf.

Am 1. Januar 1994 wurde Ermershausen wieder selbständig – und zum Beispiel für zivilgesellschaftlichen Protest und politisches Engagement. Der damalige Landrat Rudolf Handwerker schrieb einst anlässlich der 950-Jahr-Feier: "Was lehrt uns die Geschichte? Das geduldige und hartnäckige 'Bohren von dicken Brettern' bringt letztendlich den Erfolg, nicht der aufbrausende Einsatz von Knüppel und Faust." Heute gehört die Gemeinde Ermershausen zu den 13 ausgewählten "Orten der Demokratie" in Bayern, an denen Demokratiegeschichte geschrieben wurde. Das Präsidium des Bayerischen Landtags hat diese als solche benannt. Damit soll sichtbar und erlebbar gemacht werden, wie an diesen Orten die Demokratie in Bayern geprägt wurde.

5. Bürgermeister Günter Pfeiffer: Die heutige Zusammenarbeit ist ein Glücksfall

Brigitte Lüdecke und Bürgermeister Günter Pfeiffer warfen gemeinsam mit der Redaktion einen Blick in die Archivunterlagen.
Foto: Werner Mock | Brigitte Lüdecke und Bürgermeister Günter Pfeiffer warfen gemeinsam mit der Redaktion einen Blick in die Archivunterlagen.

"Mit unserer Eigenständigkeit haben wir bewiesen, dass wir es können, dass die selbstständige Gemeinde Ermershausen in Zusammenarbeit mit der Verwaltungsgemeinschaft Hofheim gut funktioniert", sagt Ermershausens Bürgermeister Günter Pfeiffer (FW). Heute bestehe zwischen Ermershausen und Maroldsweisach ein partnerschaftliches Miteinander. Dieses sei vorwiegend durch seinen Vorgänger Werner Döhler und den damaligen Bürgermeister von Maroldsweisach, den heutigen Landrat, Wilhelm Schneider (CSU) aufgebaut worden und bestehe mit dem jetzigen Maroldsweisacher Bürgermeister Wolfram Thein (SPD) fort. "Zwang, Gewalt und Bestimmung von oben sind nicht gut", resümiert Pfeiffer. "Heute besteht eine freiwillige, freundschaftliche, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Ermershausen und dem Markt Maroldsweisach und dies nicht nur auf Gemeindeebene, sondern auch in den Vereinen und der Bevölkerung. Und ich finde, dass dies ein Glücksfall ist."

Zentrale Eckdaten aus 15 Jahren Ermershäuser Freiheitskampf

1978
1. Mai: Mit Inkrafttreten der Gebietsreform wird Ermershausen dem Markt Maroldsweisach zugeordnet.
15. Mai: Bürgerinnen und Bürger aus Ermershausen verhindern, dass eine Abordnung aus der neuen Muttergemeinde Maroldsweisach die Akten aus dem Standesamt abtransportiert.
19. Mai: Rund 200 Beamte der Bereitschafts- und Landespolizei stürmen gegen 3.30 Uhr das Ermershäuser Rathaus und nehmen Aktenordner, Schränke und Tische, ja sogar Aschenbecher und Papierkörbe, mit.
1979
19. Mai: Am Jahrestag der Polizeiaktion treffen sich Ermershäuser Bürgerinnen und Bürger zum nächtlichen Protest vor dem Rathaus. In Zukunft wird der 19. Mai eines jeden Jahres zum Gedenktag in der Gemeinde.
1980
7. Februar: Die CSU-Mehrheit im Rechtsausschuss des Bayerischen Landtags lehnt Korrekturen in Fällen von Eingemeindungen ab.
16. Dezember: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weist die Klage der Gemeinde Ermershausen gegen die Eingemeindung nach Maroldsweisach ab.
1981
16. Dezember: Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine Verfassungsbeschwerde Ermershausens wegen Unzulässigkeit nicht an.
1983
27. Oktober: Das schwäbische Horgau, Ermershausen in Solidarität verbunden, gewinnt durch eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs seine Selbstständigkeit zurück.
1986
30. November: Auf Betreiben des Freiherrn Sebastian von Rotenhan (Rentweinsdorf) wird eine erste Bürgerbefragung durchgeführt, bei der sich 90 Prozent der Ermershäuserinnen und Ermershäuser für die Selbständigkeit aussprechen.
1987
19. Mai: Der Versuch einer Abordnung, im Landtag zu demonstrieren, misslingt: Die Tore des Maximilianeums werden verschlossen. Die Protest-Aktion wird auf den Vorplatz verlegt und eine Petition übergeben.
1988
20. Januar: Die CSU denkt offen über Korrekturen von "Problem-Ehen" der Gebietsreform nach.
22. März: Im Rathaus in Ebern hört sich eine Kommission der CSU vier Stunden lang eine Darstellung zum Fall Ermershausen an.
1989
18. Januar: Der Bayerische Landtag lehnt die Petition, mit der Ermershausen seine Selbständigkeit erreichen wollte, ab.
29. März: 274 Mitglieder der Bürgergemeinschaft tragen sich als Gründungsmitglieder des CSU-Ortsverbands Ermershausen ein. Zu diesem Zeitpunkt ist dieser damit der größte CSU-Ortsverband im Landkreis.
1992
19. Mai: 95 Prozent der Ermershäuserinnen und Ermershäuser halten den Kampf um Selbständigkeit für ungebrochen, 88 Prozent ein Zusammenwachsen mit Maroldsweisach für ausgeschlossen. Dies sind Zahlen aus einer wissenschaftlichen Untersuchung der Universität Erlangen-Nürnberg, die an diesem Tag vorgestellt wird.
September: Eine Änderung der Bayerischen Gemeindeordnung ermöglicht eine Ausgliederung von eingemeindeten Orten unter bestimmten Voraussetzungen.
1993
27. Januar: Der Gemeiderat Maroldsweisach lehnt sowohl eine Bürgerbefragung als auch die Ausgliederung Ermershausens gegen die Stimmen des "Ermershäuser Blocks" ab.
18. Mai: Die Bayerische Staatsregierung schlägt dem Landtag vor, die Gemeindezugehörigkeit Ermershausens zu ändern.
18. Juli: Bei einer Bürgerbefragung sprechen sich in Ermershausen 88,8 Prozent für die Selbstständigkeit aus. In Birkenfeld fällt die Abstimmung mit 51:49 Stimmen knapp zugunsten von Ermershausen aus. In Dippach allerdings entscheidet sich die Mehrheit (63,8 Prozent) für Maroldsweisach.
29. Juli: Der Gemeinderat Maroldsweisach beschließt mit 11:4 Stimmen, Ermershausen in die Selbstständigkeit zu entlassen. Dippach und Birkenfeld jedoch sollen bleiben. Wegen eines Formfehlers muss die Abstimmung am 15. September wiederholt werden. Diesmal ist sie einstimmig.
6. Oktober: Das Plenum des Bayerischen Landtags gibt der Gemeinde Ermershausen aufgrund der Bürgerbefragung nach 15 Jahren wieder ihre politische Freiheit. Die Ermershäuserinnen und Ermershäuser feiern diesen Tag mit einem Dankgottesdienst. Die Festfreude ist jedoch getrübt, weil die ehemaligen Ortsteile Dippach und Birkenfeld bei Maroldsweisach bleiben. Die Rede ist von einem "Kuhhandel".
1994
1. Januar: Ermershausen wird wieder selbstständige Gemeinde und schließt sich der Verwaltungsgemeinschaft Hofheim an. Birkenfeld und Dippach bleiben bei Maroldsweisach.
wem
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Ermershausen
Werner Mock
Bayerischer Landtag
Bundesverfassungsgericht
Bürger
CSU
Die Bayerische
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Günter Pfeiffer
Landespolizeien
Landtage der deutschen Bundesländer
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte
Rudolf Handwerker
Sebastian von Rotenhan
Standesämter
Wilhelm Schneider
Wolfram Thein
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top