
Stefan Gäb lässt seinen Blick durch die Ermershäuser Pfarrkirche St. Peter schweifen. Er verweist auf ein kleines Detail rechts der Kanzel. Dort sind vier kleine Sanduhren nebeneinander angebracht, ein Relikt aus vergangenen Zeiten. "Früher hatte man im Protestantismus den Anspruch, dass lange gepredigt wird", erklärt er. Im Sommer jedoch, so eine Theorie, sollten die Predigten kürzer ausfallen, sodass die Gläubigen wieder zu ihrer Arbeit aufs Feld konnten. Zum Einsatz kommen die Sanduhren heute nicht mehr, gepredigt wird von der Kanzel der Pfarrkirche aus aber immer noch.
Das schlicht gehaltene Gotteshaus mit doppelstöckiger Empore ist der neue Arbeitsplatz von Stefan Gäb. Oder zumindest ein Teil davon. Seit dem 1. März ist der 50-Jährige als Vikar, der Vorstufe zum Pfarrer, in der Region "Rügheim Nord" des Evangelisch-Lutherischen Dekanats Rügheim im Einsatz. Gäb ist ein sogenannter Spätberufener. Vor Kurzem hat er sein Theologie-Studium beendet. Zuvor hatte der Schweinfurter lange Zeit in einer ganz anderen Branche gearbeitet: der Banken- und Finanzwelt. Ein Gespräch über seinen ungewöhnlichen Berufswechsel, seine zwischenzeitliche Abkehr vom Glauben und den Weg zurück.
Stefan Gäb: Ich habe in der Bank den klassischen Werdegang vom Schaltermitarbeiter zum Filialleiter durchlaufen. Aber alles ging mit der Zeit vielmehr in Richtung Verkaufsdruck. Da wollte ich raus. Ich habe mich dann selbstständig gemacht und als Berater für einen Finanzdienstleister gearbeitet. Ich berate gerne Menschen. Aber ich bin nicht wirklich der Verkäufer. Ich kann den Druck nicht aufbauen, den man braucht, um da erfolgreich zu sein. Das war der Punkt zu sagen, ich muss was anderes machen. Ich habe es zunächst auf Rat der Kollegen noch in der Ausbildung und Gewinnung von Mitarbeitern versucht, aber irgendwann war klar: Nein, die Finanzbranche, das ist es nicht. Es wird mich nicht erfüllen, das noch 20 Jahre zu machen.
Gäb: Damals habe ich mich bereits ehrenamtlich in einer Kirchengemeinde in Schweinfurt, St. Lukas, engagiert und dort gerade meine Ausbildung zum Prädikanten gemacht. Als Prädikant darf man Predigten selbst schreiben und auch das Abendmahl, eines der beiden Sakramente im Protestantismus, halten – sofern die Pfarrerin oder der Pfarrer und die Gemeinde zustimmen. Ich war damals Anfang 40 und die Kirche auf der Suche nach Menschen, die als Spätberufene ihren Dienst antreten. Da dachte ich mir: Warum nicht die Leidenschaft, das Hobby, das durch das Engagement in der Kirchengemeinde ja schon gegeben war, zum Beruf machen?

Gäb: Wir Spätberufene haben mit den Regelstudierenden studiert, hatten aber eine Erleichterung: Wir mussten kein Latein und kein Hebräisch lernen, nur Alt-Griechisch. Ich bin kein Sprachgenie, in der Schule habe ich mich durch Sprachen immer eher durchgemogelt. Es hieß aber: "Das ist wie ein Feriensprachkurs, den schaffen alle." Das habe ich dann assoziiert mit: "Naja, 14 Tage Griechisch für Urlauber." (lacht) Das Niveau entspricht aber dem eines Latinums, Graecum nennt sich das dann, und das in einem halben Jahr. Sie sitzen also mit Anfang 40 auf einmal in einem Raum mit lauter 18-, 19- und 20-Jährigen, die frisch von der Schule kommen und mit Komparativ et cetera etwas anfangen können. Für mich waren das böhmische Dörfer. Ich habe es meistens so verglichen: Sie steigen gemeinsam in den Zug, nur dass die anderen im ICE sitzen, und Sie in der Regionalbahn. (lacht) Nichtsdestotrotz war es auch eine schöne Erfahrung unter lauter jungen Leuten zu sein, denn das verändert die Blickwinkel.
Gäb: Während meines Studiums gab es immer wieder Punkte, wo ich gesagt habe: Ich mag nicht mehr. Wenn zum Beispiel die erste Seminararbeit, die man richtig glücklich und stolz abgegeben hat, mit einem Vierer, gerade noch Vier, und dem Vermerk "Mangelnde wissenschaftliche Ausdrucksweise" zurückkommt, dann tut das schon weh. In meinem Berufsleben habe ich zuvor 20 Jahre über gelernt, komplexe Sachverhalte einfach darzustellen. Wissenschaft ist das genaue Gegenteil. Aber, aus meinem alten Beruf auszusteigen, war die richtige Entscheidung. Wenn man merkt, es tut einem nicht gut, dann braucht man eine Veränderung. Ich konnte mir diese zum Glück auch leisten, was ich als großen Luxus empfunden habe. Das Verrückte daran ist: Ich werde oft gelobt nach dem Motto "Mensch, toll, nochmal sowas zu machen". Die eigentliche Leistung hat aber meine Frau erbracht. Sie musste arbeiten, sie musste die Woche über mit den Kindern klarkommen.
Gäb: Der Glaube. In schwierigen Momenten dieses Gefühl zu haben: Da ist jemand da. Das hat man, wenn man als gläubiger Mensch versucht, sensibler darauf zu achten, was man für Signale empfängt. Ich hatte während meines Studiums einen Motorradunfall bei einem Fahrsicherheitstraining in Schlüsselfeld. Die letzte Übung am Abend: Notbremsen in der Kurve und ausweichen. Viermal hat es funktioniert, beim fünften Mal ist das Vorderrad weggerutscht und mein Bein war unter der Maschine. Es war eine lange Genesungsphase. Da hilft Gott auch nicht, indem er sagt: "Jetzt geht's schneller." Aber da ist das Gefühl, jemanden an der Seite zu haben. Zu spüren, da ist etwas Göttliches, das dich nicht alleine lässt und dich trägt. Manche mögen sagen, es ist vielleicht eine Autosuggestion oder sonst irgendwas. Der Punkt ist: Es hilft mir. Ob Sie an Gott glauben oder nicht, ändert nichts an seiner Existenz, aber es ändert was an Ihrer. Das weiterzugeben, ist auch Teil meiner Motivation. Ich möchte erreichen, dass Menschen zu Gott finden, oder sie in ihrem Glauben bestärken.
Gäb: Ich habe viele Jahre über keinen Gott in meinem Leben gehabt. Der Glaube kam erst mit Mitte 30 wieder zurück, und da habe ich gemerkt, was ich im Leben vorher vermisst hatte. Mit jetzt 50 Jahren ist das aber eine lange Geschichte. Meine Mutter ist gestorben, als ich vier Jahre alt war. Damals hat mein Vater im Glauben Kraft gefunden und mich immer wieder in den Kindergottesdienst geschickt. Ich war total begeistert, bis ich ins Flegelalter kam. Wir als Pubertiere mussten im Religionsunterricht dem Pfarrer widersprechen und ich war der Rädelsführer. (lacht) Von rund 28 Protestanten saßen im nächsten Jahr vielleicht 20 im Ethikunterricht. Ich wollte damals auch aus der Kirche austreten. Aber Glaube war meiner Freundin wichtig. "Naja, du kannst später ja immer noch austreten", habe ich mir gedacht. Ich bin aber noch mit ihr zusammen, heute ist sie meine Frau. (lacht)
Gäb: Zurückgefunden habe ich durch einen Schicksalsschlag. Ein Freund von mir ist mit 34 an einem Hirntumor gestorben. Vor dem Hintergrund habe ich mich damals mit dem Thema Nahtod-Erfahrungen und auch mit der Frage, was glaube ich denn überhaupt, auseinandergesetzt. Es gab auch viele Parallelen, mein Sohn war zum Beispiel im gleichen Alter wie ich, als meine Mutter gestorben ist. Und so bin ich allmählich wieder zum Glauben zurückgekommen. Ab da war es ein ganz einfacher Werdegang. Man glaubt wieder, dann engagiert man sich auch wieder ein bisschen in der Kirche. Erst über den Elternbeirat im Kindergarten, dann sagt einem der Pfarrer: "Mensch, ich bräuchte noch einen im Kirchenvorstand, und grad einen mit Finanzexpertise." Und dann ergibt das eine das andere.
Gäb: Dazu muss man unterscheiden zwischen der Kirche als Institution, der Kirche als Raum und der Kirche als Gemeinde. Die Institution muss unbedingt reformiert werden und wird es auch gerade. 500 Jahre Reformation sind viel zu lange her. Die Kirche als Raum muss sich öffnen, zum Beispiel für neuere Formen von Spiritualität, wie etwa Meditationskreise. Und auch die Kirchengemeinde muss sich und ihre Räumlichkeiten öffnen, sei es für die Krabbelgruppe oder die Schafkopfrunde. Wenn zum Beispiel jemand sagt: "Ich gehe sonntags nicht unbedingt in die Kirche, aber ich würde gerne Gemeinschaft erleben." Dafür müssen wir offen sein, weil Glaube mehr ist als Gottesdienstbesuch. Es klingt wie eine Glückskeks-Weisheit, aber: Nur weil ich in die Kirche gehe, bin ich kein Christ. Ich werde ja auch nicht zum Auto, wenn ich in die Garage gehe. Wir müssen offener werden, den Menschen eine Heimat bieten, sie sehen und für sie da sein. Dann glaube ich, hat Kirche eine Chance.
Gäb: Spontan verliebt, würde ich sagen. (lacht) Ermershausen ist im Grunde das Gegenteil meiner Kirchengemeinde in Schweinfurt. Wir waren da 3500 Mitglieder, aber im Gottesdienst am Sonntag nur um die 20, 30 Leute. Es gab dort auch engagierte Gläubige, die mit Leidenschaft dabei waren, aber sehr wenige in der Relation. Wenn man jetzt Ermershausen sieht: 500 Gemeindemitglieder, davon 100 ehrenamtlich aktiv. 20 Prozent, also das ist gigantisch. Die Gemeinde lebt den Protestantismus. Es sind hier eigentlich paradiesische Zustände, wenn man auf der Suche nach wirklich aktiv gelebtem Glauben ist. Ermershausen hat für mich einen ganz eigenen Charme. Ich bin bisher wirklich begeistert und gefühlt schon angekommen.