
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter hat laut spekuliert. Ob man Volksfeste - in seinem Fall das Oktoberfest - feiern darf, während in der Ukraine ein grausamer Krieg tobt.
Als Beispiel für seine Überlegungen mag Reiter die Erinnerung an 1991 gedient haben. Damals fiel der Fasching bundesweit aus, weil im Golfkrieg verbündete Soldaten ihr Leben lassen mussten. Ein paar Gewissensbisse waren mit verantwortlich für 91er-Enthaltsamkeit. Die Bundeswehr war nämlich - aus guten Gründen - dem Schlachtfeld fern geblieben, während andere europäische Mächte Seit an Seit mit den Amis kämpften. Die Deutschen trauten sich deshalb nicht, gleichzeitig zu feiern. Offener Frohsinn zum Krieg? Undenkbar!
Das ist jetzt anders, eher das Gegenteil. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen der naheliegendste: Deutschland - wie auch die Restwelt - hat zwei harte Pandemiejahre hinter sich. Gerade an diesem Wochenende sollen erstmals die Einschränkungen in größerem Maße fallen. Die Bevölkerung lechzt nach Geselligkeit und - gerade auch wegen des Krieges - nach ein bisschen Optimismus. Im Gegensatz zu 1991 haben Veranstalter, Kneipiers, Brauereien und alles was mit öffentlichen Festen, Gastronomie und gesellschaftlichem Leben zu tun hat, zwei Jahre am Stock gehen müssen mit dem Hoffen - so sie denn überhaupt überleben - auf die Zeit nach Corona.
Deutschland - und wir Deutsche - muss diesmal absolut kein schlechtes Gewissen haben, auch wenn uns das verschiedene Zeitgenossen einreden wollen. Deutschland ist aktiv an den härtesten Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor beteiligt, Vizekanzler Habeck spricht sogar von einer "Wirtschaftskriegspartei". Deutschland liefert Waffen an die Ukraine, mehr als es selbst für die eigene Landesverteidigung besitzt; Deutschland unterstützt finanziell; und Deutschland nimmt Hunderttausende von Kriegsflüchtlingen auf.
Natürlich dürfen wir nicht die Augen verschließen vor dem unsäglichen Leid, den der brutale Überfall der Putin-Truppen auf die Ukraine für die Menschen dort gebracht hat und jeden Tag aufs Neue bringt. Aber nach zwei Jahren Corona-Dauerkrise muss den Menschen hierzulande die Möglichkeit gegeben werden, ihre leeren Tanks mit Kultur, Lebensfreude und Gemeinschaft aufzufüllen. Nicht zuletzt auch, um dadurch die Kraft zur Hilfe trotz einer immer stärker durch den Krieg geprägten Situation zu sammeln.
Das durchaus populistische Argument, man könne nicht feiern, wenn gleichzeitig Menschen sterben, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Denn wie sonst konnten Reiter und Co. Jahr für Jahr beim Oktoberfest mit ruhigem Gewissen halbe Hendl und Brezn en masse vertilgen, während gleichzeitig ebenfalls nur wenige Flugstunden von hier entfernt Tausende von Kindern in Entwicklungsländern elend verhungern müssen?
"Wasser predigen und Wein saufen"