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Knetzgau
Knetzgau: Warum eine kleine unterfränkische Gemeinde der Fußball-WM in Katar die Rote Karte zeigt
Die Gesellschaft für bedrohte Völker informiert über die Menschenrechtslage in Katar. Und erklärt, was Bürgerinnen und Bürger gegen solche WM-Vergaben tun können.
Rote Karte für die WM in Katar? Die würde die Gesellschaft für bedrohte Völker dem globalen Sportereignis am liebsten zeigen.
Foto: Martin Sage | Rote Karte für die WM in Katar? Die würde die Gesellschaft für bedrohte Völker dem globalen Sportereignis am liebsten zeigen.
Martin Sage
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:04 Uhr

Jetzt noch eine Informationsveranstaltung über die Menschenrechtslage in Katar, wo die Fußball-WM schon in wenigen Tagen beginnt? Und dann in einer kleinen Gemeinde wie Knetzgau: Was soll das noch bringen, was ändern? "Eine WM-Vergabe wie bei Katar darf es nie mehr geben", sagt Tabea Giesecke am Donnerstagabend im Knetzgauer Rats- und Kultursaal. Und die 25 Männer und Frauen im Publikum könnten dazu beitragen, dies zu verhindern.

Jeder einzelne Mensch als Multiplikator in Sachen Menschenrechte

"Sie alle sind Multiplikatoren" erklärt die Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV, Göttingen) ihren Zuhörerinnen und Zuhörern. Will heißen: Was sie an diesem Abend gehört haben, sollen die Menschen aus Knetzgau und Umgebung ihren Familien, Freunden und Bekannten weitererzählen. Sie sollen so dazu beitragen, ein breites öffentliches Bewusstsein dafür zu schaffen, was Weltfußballverband und Politik da zugelassen haben: Die WM in einem Land, in dem "Menschenrechte im Abseits stehen".

Giesecke, die bei der GfbV im Referat für ethnische, religiöse, sprachliche Minderheiten und Nationalitäten arbeitet, ist sich sicher: Wenn dieses öffentliche Bewusstsein vorhanden ist, dann entsteht auch der nötige Druck auf Politik und Verantwortungsträger im Spitzensport, damit ein internationales Großereignis wie die WM kein weiteres Mal an ein Land geht, "in dem Frauen wie Sachen behandelt werden", das terroristische Vereinigungen wie Al Kaida und die Taliban unterstütze und die Infrastruktur der Weltmeisterschaft mit einer Heerschar schlecht bezahlter und kaum geschützter Arbeitsmigrantinnen und -migranten geschaffen habe.

Tobias Reßmann aus Eltmann wird die WM-Übertragung ohne schlechtes Gewissen verfolgen – aber Katar fortan nicht als Urlaubsland auswählen.
Foto: Wolfgang Aull | Tobias Reßmann aus Eltmann wird die WM-Übertragung ohne schlechtes Gewissen verfolgen – aber Katar fortan nicht als Urlaubsland auswählen.

Was er an diesem Donnerstagabend hört, das beeindruckt Tobias Reßmann aus Eltmann durchaus: "Ehrlich gesagt: So richtig viel mitbekommen davon hatte ich bisher nicht", gibt Reßmann, einst selbst aktiver Fußballer und heute begeisterter Laufsportler, mit Blick auf die Menschenrechtslage in Katar zu. Da werde er jetzt mit Freunden und Kollegen und im Verein – Reßmann trainiert junge Läuferinnen und Läufer –, darüber sprechen. Die Spiele im Fernsehen werde er sich anschauen, "ohne schlechtes Gewissen", kündigt der 46-Jährige an. Aber sein Urlaubsziel werde Katar jetzt ganz sicher nicht mehr.

Wegen Katar: Bürgermeister Stefan Paulus hat seine Mitgliedschaft beim FC Bayern gekündigt

Bürgermeister Stefan Paulus, Initiator und Gastgeber der Veranstaltung mit dem Titel "Sport ist politisch", gehört zu denen, die den Fernseher für die WM bewusst nicht einschalten werden. Weil "auf den Rasen Blut klebt", wie er sagt. Dabei ist Paulus leidenschaftlicher Fußballfan, hat schon als Kind für die Deutsche Nationalelf gefiebert und jedes WM-Spiel verfolgt. Sogar Mitglied beim FC Bayern war der 55-Jährige. Die Mitgliedschaft habe er aber vor zwei Jahren gekündigt, wegen der fragwürdigen Verbindungen des Vereins zu Katar, sagt Paulus und bekommt dafür Applaus. Doch er schränkt selber ein, dass dieser Schritt möglicherweise falsch war: Weil er sich somit der Möglichkeit beraubt habe, bei den "Bayern" von innen heraus etwas zu ändern.

"Auf den Rasen klebt Blut"
Stefan Paulus zur WM in Katar und dem Bau der Fußballstadien

Mitglied ist und bleibt Paulus indes bei der Gesellschaft für bedrohte Völker. Als Bürgermeister und Privatperson hat er schon Flagge gezeigt gegen die Unterdrückung der Uiguren durch China, als dort die Olympischen Spiele stattfanden. An seinem Rathaus hing schon mehrfach die Flagge von Tibet, aus Solidarität mit der Bevölkerung des 1951 von China annektierten Landes. Was verspricht er sich von Aktionen wie jetzt dem Informations- und Diskussionsabend über die WM in Katar?

"Mich beschäftigt die Frage, was kann eine Gemeinde tun bei solchen Themen, die eigentlich Weltpolitik sind", erklärt Paulus gegenüber der Redaktion. Die Antwort hat er bereits gefunden: Kommunen seien die politische Ebene, der die Bürgerinnen und Bürger am meisten vertrauten. Paulus glaubt deshalb, dass sich die Menschen auf dieser Ebene am leichtesten für Menschenrechtsthemen sensibilisieren lassen, wenn nur offen und ehrlich darüber geredet wird.

Tabea Giesecki und Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker berichten in Knetzgau von der Menschenrechtslage in Katar.
Foto: Martin Sage | Tabea Giesecki und Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker berichten in Knetzgau von der Menschenrechtslage in Katar.

Paulus redet von Bewusstseinsbildung, die in Vereinen, in den Kirchen, in Schulen, in Gemeinden beginnt, von unten also. Und sich irgendwann auf die große Politik niederschlägt. Damit ist er ganz bei Tabea Giesecke und ihrem Mitstreiter Kamal Sido. Der deutsch-kurdische Menschenrechtsaktivist, wie Giesecke Referent bei der NGO GfbV, nimmt sein Publikum in Knetzgau auf eine Reise mit in das von Emir Tamim bin Hamad Al Thani autoritär regierte WM-Austragungsland.

"Es ist eine Doppelmoral, die die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können."
Kamal Sido zur Haltung der Bundesregierung gegenüber Katar in Sachen WM und Energie

Im Februar und März hat er Katar bereist und dort ohne offizielle Genehmigung Menschen befragt und wichtige Lokalitäten fotografiert. Unaufgeregt, aber eindrücklich, berichtet der promovierte Orientalist aus seinem Reisetagebuch, aus dem hervorgeht: Wer hier die falschen Fragen stellt, die falschen Leute anspricht oder der falschen Religion angehört (Kamal Sido ist selbst Muslim), für den kann es schnell kritisch werden; ganz abgesehen von Frauen, die eh keine Rechte hätten.

Für die GfbV steht die Glaubwürdigkeit Deutschlands auf dem Spiel

Was Deutschland anbelangt, so sorgt sich der Referent um die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und das Vertrauen der Bevölkerung in sie. Und ist damit wieder bei Menschen wie seine Zuhörerschaft in Knetzgau: "Die Welt schaut auf Deutschland", sagt Sido. Wenn die Politik dann bei der WM auf Menschenrechte poche, bei der Energie aber das Völkerrecht außer Acht lasse, dann sei das eine Doppelmoral, die die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen könnten. Gemeint ist hier vor allem der Versuch von Wirtschaftsminister Habeck, in Katar Gas zu kaufen.

Manche Person im Knetzgauer Rathaussaal ist sich der Problematik der WM in Katar längst bewusst, andere lernen an diesem Dienstagabend eine Menge dazu: Etwa den Begriff Sportwashing, was so viel bedeutet wie: Ein Staat oder ein Unternehmen versucht, sich über den Sport ein sauberes Image zu verpassen. Genau das sei das Ziel von Katar, sich mithilfe der Fußballweltmeisterschaft als demokratische, tolerante, weltoffene Nation zu präsentieren, sagt Tabea Giesecke.

Herbert Nölscher aus Eltmann schaut bewusst kein einziges WM-Spiel, obwohl er seit Jahrzehnten Fußballfan ist.
Foto: Wolfgang Aull | Herbert Nölscher aus Eltmann schaut bewusst kein einziges WM-Spiel, obwohl er seit Jahrzehnten Fußballfan ist.

Dessen ist sich auch Herbert Nölscher als Eltmann bewusst. "Ich habe schon vor fünf Jahren beschlossen, kein Spiel in Katar anzuschauen", sagt der 65-Jährige. Für Nölscher ist das durchaus ein Opfer: Der Fußballfan kann Details aus unzähligen WM-Spielen bis ins Jahr 1966 zurück erzählen; bei der WM 2006 in Deutschland hat er einige Partien live in den Stadien gesehen. Es war aber zunächst nicht die prekäre Menschenrechtslage in Katar, die ihn zum persönlichen WM-Boykott bewegt hat: "Ich konnte einfach nicht begreifen, dass die WM in einem Land stattfinden soll, in dem Fußball keine Rolle spielt", meint Nölscher, ganz abgesehen von der Austragung im Winter und in einem Wüstenstaat.

Was jede und jeder einzelne jetzt also tun könne, außer selbst Aufklärungsarbeit in Sachen Katar zu leisten? Auf diese abschließende Frage hat Tabea Giesecke eine einfache Antwort: "Kaufen Sie nicht die typischen Merchandising-Artikel und besuchen Sie kein Public Viewing" nennt sie zwei entscheidende Signale gegen die Katar-WM. Und an einem Tisch mit Informationsmaterial zur Gesellschaft für bedrohte Völker kann sie jeder, der will, mitnehmen: Die "Rote Karte für Katar".

 
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  • robert.erhard@gmx.de
    Dass die Umstände alles andere als unseren Anforderungen entsprechen, ist unbestritten.
    Aber wenn Prozesse in Deutschland Jahrzehnte oder über 100 Jahre gedauert haben, ist es nicht vermessen zu glauben, dass wir innerhalb von 4-5 Jahren einen eigenständigen Staat mit einer eigenständigen Kultur, andere Religionen und Sitten umerziehen können nach unseren Vorstellungen?
    Den Kataris wird es egal sein ob ein Bürgermeister eine Show abzieht oder jemand aus Eltmann die Spiele guckt!

    Steht das uns überhaupt zu?

    Mag sein!
    Es ist unsere Aufgabe im Sinne der Menschenrechte Hinweise und Anregungen zu gehen und uns einzubringen.
    Nicht wer noch was draufsetzt oder wer am meisten gegen etwas ist oder die beste Boykott-Show medial umsetzt!

    Mit scheinheiligen Gefechten ist keinem Arbeiter und keiner Frau dort geholfen!
    Ja,der Prozess muss angeschoben werden!

    Es ist Selbstinszenierung bei uns für die Presse!
    Einen solcher Eingriff eine Kultur braucht Zeit von innen heraus!
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