Ein Flug von 22 Stunden mit Zwischenlandung in Singapur liegt hinter James Dziedzic, der sich von seinem Zuhause, der australischen Hauptstadt Canberra, auf nach Deutschland und in den Landkreis Haßberge gemacht hat. Und doch sind es nicht die vielen Flugmeilen und die lange Reisedauer, sondern vor allem die persönliche Geschichte hinter Dziedzics Reise, die diese zu etwas Besonderem machen. Als der 73-Jährige am Bahnhof in Haßfurt aus dem Zug steigt, trifft er zum ersten Mal auf seine Cousinen Erika Koch, 77, und Marianne Heurung, 75, von denen er lange Zeit nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gibt.
Familienzusammenführung am Haßfurter Bahnhof: "Ich hatte erstmal Tränen in meinen Augen"
"Als wir uns am Bahnhof trafen, hatte ich erstmal Tränen in meinen Augen", erzählt Dziedzic. Mit Rosen und Champagner sei er empfangen worden. "Wenn schon ein Cousin wie aus dem Nichts auftaucht, dann wollten wir ihn auch gebührend begrüßen", sagt Koch mit einem Schmunzeln. Während die beiden von diesem ersten Aufeinandertreffen erzählen, sitzen sie an einem Tisch in Erika Kochs Garten in Birkach. Auch Marianne Heurung und ihr Mann Klaus aus Stöckach sind gekommen. Ebenso Kochs Töchter Manuela Stecher und Claudia Häfner. Hinter der Familie liegen zwei ebenso vollgepackte wie emotionale Wochen.
Dass er an diesem Montag Ende Mai bei einer Cousine im Garten sitzen würde, über 16.000 Kilometer Luftlinie von seinem Zuhause entfernt, hätte sich James Dziedzic sicher nicht träumen lassen, als er vor einiger Zeit begann, die eigene Familiengeschichte zu erforschen. Hierfür nutzte er unter anderem mit "Ancestry" und "MyHeritage" zwei bekannte Internetplattformen für Ahnenforschung. Außerdem dienten dem Australier die "Arolsen Archives" als Quelle. Diese sind ein internationales Zentrum mit dem, wie es auf der zugehörigen Website heißt, "weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus" und Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes.
Das alles hätte aber nicht zu dem Kontakt mit den bis dato unbekannten Verwandten geführt, hätten sich nicht auch von deutscher Seite aus Mitglieder der Familie auf Ahnenforschung begeben. "Mein Mann und ich haben uns Anfang 2023 bei 'MyHeritage' angemeldet", berichtet Erika Kochs Tochter Manuela Stecher, die in Haßfurt lebt. Im August 2023 habe James Dziedzic sie dann über die Internetplattform angeschrieben.
"Er meinte, er wäre der Cousin meiner Mutter und lebe in Australien." Sie habe die Nachricht jedoch erst einmal ignoriert, sagt Stecher. Erst drei Wochen später und nachdem sie das Ganze mit ihrem Mann abgewägt hatte, entschied sie sich zu einer Antwort. Allerdings sei sie da noch von einem Irrtum ausgegangen. Doch Dziedzics Antwort mit Details zu ihrer Familie überzeugte sie letztendlich.
Beginn der kuriosen Familiengeschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg trennten sich die Wege
"Wir waren alle sehr aufgeregt deswegen", erzählen Stecher und ihre Mutter Erika Koch. Deren und Marianne Heurungs Vater Ivan war 1940 als Zwangsarbeiter aus dem Süden Polens nach Deutschland gekommen, ebenso wie seine Schwester Anastasia, die Mutter von James Dziedzic. Während Ivan sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier niederließ und seinen Namen zu Johann eindeutschte, suchte Anastasia ihr Glück im Ausland. "Wir hatten die Information, dass sie nach Amerika gegangen ist", berichten Koch und ihre Tochter. "Als wir von James aus Australien hörten, dachten wir erst: Das kann gar nicht sein."
Wie sie inzwischen durch Dziedzic wissen, entschied sich ihre Tante beziehungsweise Großtante gegen Amerika und für Australien, weil offenbar nur so gewährleistet war, dass sie dorthin zusammen mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind auswandern konnte. 1949 ging die kleine Familie damals als Vertriebene nach Down Under. 1950 erblickte Sohn James das Licht der Welt. 1956 bekam das Paar ein weiteres Kind, James' Schwester Rosemary. Dziedzic selbst hat in Australien heute eine Frau und zwei Kinder sowie inzwischen auch zwei Enkelkinder.
"Danach sind Erika und Marianne meine engsten Verwandten", sagt der Australier mit Blick auf seine zwei deutschen Cousinen, von denen und deren Familien er lange nichts wusste. "Wir dachten, die meisten wären im Krieg umgekommen", erklärt Dziedzic. "Und jetzt, nach mehr als 70 Jahren, entdeckst du Menschen, von denen du nicht wusstest, dass sie existieren."
Da der 73-Jährige kaum Deutsch spricht und seine Cousinen nur wenig Englisch, gestaltet sich die Kommunikation indes gar nicht so einfach. Beim Telefonieren hätten sie ein weiteres Handy gebraucht, um neben WhatsApp auch den Google-Übersetzer nutzen zu können, berichtet Dziedzic. "Es war ein Durcheinander", sagt er mit einem Lachen und ergänzt: "Es ist einfacher rüberzufliegen."
Im Herbst vergangenen Jahres sei ihm die Idee zu einem Besuch gekommen, berichtet der Australier. Seit fünf Jahren sei er nicht mehr verreist gewesen. Aber er habe sich gesagt: "Wenn du es jetzt nicht machst, dann machst du es nie." Und so stieg Dziedzic schließlich in Canberra in den Flieger und hob gen Deutschland ab. Zwei Wochen war er auf eigene Faust unterwegs, besuchte unter anderem Hamburg, Berlin und Weimar, ehe er sich in den Zug nach Haßfurt setzte.
Emotionale Reise in die Haßberge: Auf den Spuren der Eltern und des Onkels unterwegs
Gemeinsam mit Koch und deren Familie folgte Dziedzic hier und in der Region den Spuren seiner Eltern und seines Onkels Johann. Es war der emotionalste Teil seiner Reise. Und, ein volles Programm in zwei Wochen, denn auch die hiesigen Kulturschätze wollten erkundet werden. Außerdem gab es ein großes Abendessen mit der Familie, 44 Personen, wofür sie eigens das Sportheim in Gemeinfeld anmieteten, wie Erika Koch berichtet.
Herzukommen sei beinahe die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, sagt Dziedzic mit einem Leuchten in den Augen. "Auch wenn wir uns vorher nie gesehen haben, ist es so, als hätte ich mein ganzes Leben hier gelebt." Sie hätten gleich gemerkt, dass James kein Fremder sei, sagt Marianne Heurungs Mann Klaus und deutet in Richtung des Eingangs zu Garten und Grundstück. "Das erste Mal, als er hier raufgekommen ist, haben wir gedacht: Wie der Johann."
Es ist nicht die einzige Ähnlichkeit, die die Familienmitglieder in den vergangenen zwei Wochen untereinander festgestellt haben, physisch, aber auch was ganz andere Dinge betrifft. "Die Art und Weise wie Erika kocht", sagt Dziedzic auf die Frage prompt. "Genau wie meine Mutter gekocht hat." Er sei hier so verwöhnt worden und müsse sich in Australien erst einmal neue Hosen kaufen, scherzt er und tippt auf seinen Bauch.
Die Zusammenkunft im Garten in Birkach ist der letzte Abend vor Dziedzics Rückflug nach Australien. Ein Gegenbesuch ist aktuell von deutscher Seite nicht geplant. Ein bisschen Wehmut ist angesichts des nahenden Abschieds bereits spürbar. "Es ist schade, dass es so weit weg ist", sagt Erika Koch. Ob er noch einmal nach Deutschland kommen werde? "Ich bin mir nicht sicher. Ich würde gerne", sagt Dziedzic. Was er vor allem mit nach Australien nimmt sind Erinnerungen. "Erinnerungen, die mein Leben verändert haben, die ich nie vergessen werde." Eine Familiengeschichte mit Happy End also. Der Australier erwidert verschmitzt: "Sie ist noch nicht zu Ende."