Die Wand im Foyer der Haßfurter Realschule ist am Ende des Tages geschmückt mit Tauben aus Papier. Manche sind mit Buntstiften bemalt, tragen die Nationalfarben der Ukraine, Blau und Gelb. Denis Bachmann, 16 Jahre alt, hängt seine Taube vorsichtig dazu. Auch er hat sich für diese Farben entschieden. "Meine Großeltern sind vor wenigen Tagen aus Kiew geflohen", der belagerten Hauptstadt des Landes, sagt der Schüler. "Fünf Tage waren sie mit dem Auto unterwegs, inzwischen sind sie in Sicherheit, hier bei uns."
Der Krieg in der Ukraine, er hat inzwischen auch die Dr.-Auguste-Kirchner-Realschule erreicht. Mit den Tauben fordern die rund 600 Schülerinnen und Schüler den Frieden in dem osteuropäischen Land. Es ist ihr Projekttag, an dem sie sich mit den Folgen von Krieg befassen. Mit Menschen, die nicht nur ihre Heimat verloren haben, sondern Beine, Arme oder am Ende gar ihr Leben. Die Schülerinnen und Schüler stellen sich an diesem Tag aber auch die Frage: Was macht Krieg eigentlich mit uns?
"Wenn es zu emotional wird, kommt gerne zu mir"
In den frühen Morgenstunden, kurz vor Beginn des Unterrichts, ist hier eigentlich alles wie immer. Kinder toben über den Pausenhof. Ihr Johlen schallt noch einmal durch die Gänge des Gebäudes, bevor es für einige Stunden verstummt. Im ersten Stock im Raum der Klasse 8A sitzen 18 Schülerinnen und Schüler schon an ihren Plätzen. Sie lauschen den Worten der Lehrerin: "Wenn euch etwas emotional zu viel wird, dann kommt gerne zu mir. Dann reden wir darüber", sagt Claudia Blech. Blech unterrichtet eigentlich Mathematik und Physik. Nicht heute.
Heute steht Krieg auf dem Stundenplan der Klasse 8A: Ein virtuelles Rätsel, bei dem es um Samira geht, ein Mädchen aus der Zentralafrikanischen Republik. Dort herrscht seit 2013 Bürgerkrieg. Eine Fotoausstellung des Journalisten und Fotografen Till Mayer, der inzwischen aus der Ukraine berichtet. Sie zeigt, wie Bomben und Minen das Leben von Menschen erschütterten, ihnen Beine und Arme nahmen. Ein Vortrag des Schulleiters Hartmut Hopperdietzel über das, was derzeit in der Ukraine geschieht - und wie die Schülerinnen und Schüler damit umgehen können. Und zuletzt: Eine Stunde, in der die Jugendlichen ihre eigene Friedensbotschaft gestalten können - in Form einer Taube. Der Projekttag an der Haßfurter Realschule, dessen Planung lange vor dem Einmarsch Russlands begann, er ist aktuelle denn je. Doch er zeigt auch: Krieg gibt es nicht erst seit der Invasion der Ukraine.
Auch Schüler vom Krieg in Ukraine betroffen
Das reale Schicksal von Samira lernen die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8A auf ihren Tablets kennen. Dort erfahren sie, wie das Mädchen bei einem Angriff bewaffneter Rebellen auf ihr Dorf ein Bein verlor. Es geht um ihren Alltag mit dieser Hürde. Darum, wie Samira ihn trotzdem meistert. Bei der Gartenarbeit, dem Gang auf den Markt. Journalist Till Mayer hat Samira im echten Leben getroffen hat. Gemeinsam mit ihm übertrugen die Schülerinnen und Schülern der Klasse 8C das Schicksal in eine interaktive Geschichte aus Texten, Bildern, Fragen. "Begonnen hat unser Projekt bereits in der 7. Jahrgangsstufe", sagt Carolina Laufer, 13 Jahre alt, die auch an der Planung des Projekttags beteiligt ist. "Samiras Geschichte steht für so viele Menschen, die von Krieg betroffen sind", sagt sie.
Denis Bachmann und Artem Chekotylo, Klasse 8A, klicken sich gerade durch Samiras virtuelle Welt. Die echten Folgen des Krieges haben die beiden Jungs schon lange erreicht. Artem Chekotylo, 14, stammt aus der Ukraine, lebte dort, bis er zehn war. Vor vier Jahren, erzählt er, sei er mit seiner Mutter nach Deutschland gekommen. Sein Vater sei geblieben. Bis vor wenigen Tagen habe er im Osten des Landes gelebt, in der Millionenstadt Dnipropetrowsk. Doch es sei zu gefährlich geworden. "In den ersten Tagen, als der Krieg begonnen hat, war es richtig schlimm", sagt Artem Chekotylo. Inzwischen sei sein Vater in Sicherheit, vertrieben vom großen Nachbarn im Osten.
Krisenintervention der Schule ist auf Abruf
"Der heutige Tag ist natürlich auch eine Gratwanderung." Das sagt Anke Männer. Sie ist Teil des Leitungsteams der Haßfurter Realschule. An diesem Tag springt Männer von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, die Schülerinnen und Schüler immer im Blick. "Einerseits geht es uns darum, Betroffenheit zu schaffen", sagt sie. "Andererseits gibt es natürlich auch spielerische Elemente, durch die sich die Schülerinnen und Schüler dem Thema annähern. Und Lachen ist auch heute nicht verboten." So ein Tag, erklärt Männer weiter, könne unterschiedliche Reaktionen auslösen. Doch man lasse die Schülerinnen und Schülern mit ihren Gefühlen nicht alleine. "Für den Fall der emotionalen Überforderung gibt es bei uns eine Lehrkraft mit einer Kriseninterventionsausbildung."
In einem Klassenzimmer im ersten Stock der Realschule liegen Minen und Streubomben auf dem Boden. Attrappen aus Plastik, platziert von einer Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Handycap International. Magdalena Graf, 28 Jahre, ist Sonderpädagogin. Heute erklärt sie Schülerinnen und Schülern der 10. Jahrgangsstufe die perfide Funktion dieser Waffentechnik. Die Begründung, warum sie verboten gehört, liefert Graf damit gleich mit. "Auch wenn die Soldaten gegangen sind und der Krieg vorbei ist, bleiben die Minen zurück", sagt sie. Mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung, wie das Beispiel Bosnien und Herzegowina auf dem Balkan zeige. "Wir wollen hier Aufklärungsarbeit leisten und junge Menschen sensibilisieren", sagt Graf. Und sie hat viel zu tun. Alle zwei Schulstunden wechselt die Klasse. Die nächsten Schülerinnen und Schüler warten bereits.
Keine Spaltung auf dem Pausenhof
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8A haben inzwischen in der Aula der Realschule Platz genommen, dem Silberfisch. Auch Denis Bachmann und Artem Chekotylo. Vor der Bühne wartet Schulleiter Hartmut Hopperdietzel. Ein Projektor wirft das übergroße Bild eines ukrainischen Soldaten auf die Leinwand hinter ihm. Der Mann steht in einem zerstörten Klassenzimmer im Donbass. In der einen Hand hält er ein Schulbuch, in der anderen ein Sturmgewehr. Krieg macht auch vor dem Klassenzimmer nicht halt, zeigt Hopperdietzel.
"Es ist eine Utopie zu glauben, dass der Krieg noch nicht bei uns angekommen ist", sagt der Schulleiter. Er geht auf die Sorgen seiner Schülerinnen und Schüler ein. Redet von Ukrainern, die der Konflikt bereits nach Deutschland getrieben habe. Und von aufkeimendem Hass gegen russischstämmige Menschen, die nichts mit Putins Krieg zu tun hätten. "Es geht darum, eine Gemeinschaft zu bleiben und keine Spaltung zuzulassen", sagt er. Auch auf dem Pausenhof. Artem Chekotylo, der in der ersten Reihe neben Denis Bachmann sitzt, nickt. Nach dem Vortrag wird er sagen: "Ich kann die Regierung von Russland nicht verstehen, aber ich hege keinen Groll gegen die russischen Menschen."