
Tanja Heyn steht in ihrem Westheimer Wohnzimmer. In der rechten Hand hält die 48-Jährige eine kleine, stachelige Kugel. Es ist ein zusammengerollter Jungigel, den ihr eine Familie aus Donnersdorf heute gebracht hat, nachdem der Tierarzt nicht wirklich weiterhelfen konnte. So ist das oft, denn der Igel ist ein Wildtier und viele Tierärzte kennen sich zwar mit Haus- und Nutztieren, nicht aber mit Wildtieren gut aus.
Tanja Heyn aber kennt sich aus. Sie ist Igelpflegerin, Igelretterin, Igelpäpplerin oder wie auch immer man das nennen will, was Privatpersonen in ihrer Freizeit tun, damit der in Deutschland heimische Braunbrustigel nicht von der Bildfläche verschwindet. Er zählt zu den besonders schützenswerten Arten und steht seit 2024 auch auf der internationalen Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten.
"Ich bin dann mal Igeln" – ein eigener Raum für die kleinen Patienten
Die Donnersdorfer Familie kam mit drei kleinen Kindern im Schlepptau und ist jetzt schon wieder auf dem Nachhauseweg. Nun kann Tanja Heyn den für Mitte Dezember viel zu schmächtigen Igel in aller Ruhe inspizieren. Dafür schnappt sie sich ihren Rollator, öffnet die Tür zu einem rund 20 Quadratmeter großen Raum neben dem Wohnzimmer, ruft ihrem Mann Jürgen noch neckisch zu "Ich bin dann mal Igeln" – und betritt eine andere Welt.

Dort, wo in Heyns früherem Leben die Weinflaschen lagerten und die Motorradklamotten hingen, befindet sich seit zwei Jahren eine kleine Igelpflegestation. Dort hat sie allein in den letzten vier Monaten 86 Igel versorgt und gesund gepflegt. 15 Patienten hat sie aktuell, zwölf befinden sich in großen Plastikkisten auf ihrer Pflegestation im Haus, die anderen drei sind bereits über den Berg und verabschieden sich draußen im Garten in geschützten Gehegen gerade in den Winterschlaf.
Schlaganfall Mitte 2022: Ein Ereignis, das alles veränderte
"2017 Mann kennengelernt, 2019 Motorradführerschein gemacht, 2020 geheiratet, Mitte 2022 schwerer Schlaganfall. Von meiner linken Körperhälfte funktionierte nur noch ein einziger Oberschenkelmuskel. Ich konnte auch nicht mehr rechnen, konnte nicht mehr lesen", fasst die gebürtige Dortmunderin ihr Leben der letzten Jahre zusammen und fügt mit leuchtenden Augen das große Glück nach dem großen Unglück hinzu: "Und dann schlich sich der Igel in meinen Garten und in mein Leben, als ich an einem Abend im Herbst 2022 auf der Terrasse herumsaß."

Heyn wurde neugierig, wollte wissen "Was frisst denn so ein Igel?" und lernte mit Igelfachbüchern langsam wieder lesen. Durch die Pflege der Igel gelang es ihr, auch die gelähmte linke Körperhälfte und insbesondere den linken Arm wieder etwas ins Leben zurückzuholen.
Vor ihrem Schlaganfall arbeitete Tanja Heyn als Unternehmensberaterin in der Arbeitssicherheit, führte neun Mitarbeiter, reiste viel und verdiente gutes Geld. Heute pflegt sie Igel, kann wegen ihrer körperlichen Einschränkungen das Haus nicht mehr alleine verlassen und steckt ihre kleine Erwerbsminderungsrente komplett in die Igel.
Das Motorrad ist verkauft, das Geld floss in die Igelstation
Sie erklärt: "Mein Motorrad habe ich dieses Jahr nun auch verkauft, denn Motorradfahren werde ich nie wieder können. Das Geld ist allerdings schon wieder weg. Es floss in die Ausstattung meiner Igelpflegestation." Ohne jegliche Wehmut oder Zweifel ergänzt sie: "Meine Welt ist kleiner geworden, aber trotzdem bin ich erfüllter als in meinem früheren Leben. Das, was ich heute tue, empfinde ich als wertvoller. Ich setze mich für den Artenschutz ein."
Heyn räumt jedoch ein, dass ohne ihren Mann nichts ginge: "Ich stecke mein Geld in die Igel und er füttert mich durch." Jürgen Heyn macht außerdem alle Arbeiten im Außenbereich und geht seiner Frau auch im Haus bei allem zur Hand, was sie seit dem Schlaganfall nicht mehr machen kann.
Abgetrennte Vorderpfote: Mähroboter als Gefahr für Igel
Zurück auf Heyns Pflegestation, wo die Westheimerin jetzt den jungen Igel aus Donnersdorf mit wenigen Handgriffen dazu bringt, sich zu öffnen, während im Hintergrund mehrere Igel, die von Lungenparasiten geplagt werden, fürchterlich husten. Zerknirscht stellt Heyn fest: "Eine abgetrennte Vorderpfote. Schon wieder." Es ist ein glatter Schnitt. "Da gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten: Mähroboter, elektrischer Rasentrimmer mit Faden oder Schlagfalle." Ein Vierbeiner ohne Vorderpfote kann schlecht laufen und im Falle des Igels kann er vor allem nicht nach Insekten buddeln. "Er hat keine Überlebenschance", so das Fazit der Igelpflegerin.

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leid oder Schäden zufügen, heißt es im Artikel 1 des Tierschutzgesetzes. Tanja Heyn fragt sich – nein eigentlich fragt sie die Menschen: "Ist ein dauergetrimmter Rasen ein 'vernünftiger Grund'?"
Was die Arbeit der Igelretterin erschwert
Fragt man Tanja Heyn, was ihr zu schaffen macht, antwortet sie nicht: "Dass ich das Haus nicht mehr alleine verlassen kann und selbst im Haus auf einen Rollator angewiesen bin." Nein, sie sagt: "Dass es für Menschen wie mich, die sich ehrenamtlich um Igel kümmern, immer schwieriger wird, an überlebenswichtige Medikamente zu kommen, und dass wir jetzt für jeden einzelnen Igel zum Tierarzt sollen. Wie bitte soll ich das anstellen?"

Zudem berichten viele Igelpflegerinnen und -pfleger, dass die Menschen immer dreister würden und beispielsweise Igelfindlinge einfach vor ihrer Tür abstellen. Heyn kann das bestätigen: "Neulich drohte mir jemand am Telefon: 'Wenn Sie den Igel nicht nehmen und abholen, setze ich ihn wieder aus.'"
Tanja Heyn wünscht sich Hilfe aus der Politik
"Wo sind die Kommunen und die Landesregierung?", fragen sich Heyn und viele andere Igelretter, die häufig die Grenzen des eigentlich Machbaren überschreiten. Zeitlich, finanziell, nervlich – auch körperlich. "Igel sind ja keine Haustiere. Es sind nützliche Wildtiere und Igelschutz ist kein Selbstzweck. Es ist Artenschutz, auch Klimaschutz", so Heyn.

Tanja Heyn sagt, ihr käme es manchmal so vor, als täte man alles dafür, den Igel auszurotten. Nicht nur, aber auch mit Mährobotern. Sie weissagt: "Erst stirbt der Igel, dann wir." Neulich entdeckte sie auf dem Instagram-Account der in Schwebheim lebenden Bundestagsabgeordneten Dr. Anja Weisgerber einen Igel, den selbige mit Schinken füttert. "Jeder Igel-Anfänger weiß, dass gewürzte Nahrung Igeln schadet. Was, finde ich, nachdenklich macht: Weisgerber ist Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Umweltausschuss des Deutschen Bundestags", so Heyn. In diesem Ausschuss geht es um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen, um Artenvielfalt, Naturschutz, Klimawandel.
Tanja Heyn macht einen tiefen Seufzer, greift zum Handy und ruft die Familie aus Donnersdorf an. "Sie müssen bitte umkehren, der Igel muss zurück zum Tierarzt. Er muss eingeschläfert werden. Ich selbst darf keine Igel einschläfern und ich kann auch kein Auto fahren."
Wer einen Igel in Not gefunden hat, kann Tanja Heyn auf ihrem Notfall-Igel-Telefon unter Tel.: (0152) 02009403 oder über ihren WhatsApp-Kanal: "Igelgemurmel" erreichen.