Erstmal ist Jenna ihr menschliches Gegenüber so ziemlich egal. Die Stute hat ihren weißen Kopf über den Zaun des kreisrunden Arbeitsplatzes am Ortsrand von Altershausen gereckt und blickt in Richtung des Stalls und ihrer dortigen Artgenossen. Tina Wagner, die in der Mitte des sogenannten Roundpens steht, muss sich Jennas Aufmerksamkeit erst einmal erarbeiten. Als Hilfsmittel hat die 39-Jährige dazu einen Stab mit einer orangefarbenen Fahne in ihrer Hand. Mit dieser treibt sie das Pferd schließlich im Schritt das Rund um sich entlang.
Einige Zeit später ergibt sich für den Betrachter ein ganz anderes Bild: Stute Jenna ist zu Wagner in die Mitte des Roundpens gekommen. Setzt sich die 39-Jährige in Bewegung, folgt ihr das Pferd auf Schritt und Tritt über den Arbeitsplatz. "Wie fühlst du dich jetzt?", fragt Anton "Toni" Engelbrecht. Der 61-Jährige ist der Besitzer von Jenna. Mit ihr und einem weiteren Pferd bietet er pferdegestütztes Coaching für Menschen an. Er hat Wagner beim sogenannten Join-Up mit Jenna im Roundpen angeleitet.
"Man fängt an, über sich selbst nachzudenken"
"Gut", antwortet Tina Wagner auf die Frage des Coaches und nickt bestätigend. Die 39-Jährige und ihre beiden Töchter kümmern sich mit um die Pferde der Engelbrechts – im Rahmen einer Reitbeteiligung. Bei einer solchen pflegt oder reitet man ein Pferd regelmäßig, ohne selbst der Besitzer zu sein. Die jetzige Coaching-Demonstration anlässlich des Besuchs der Redaktion reiht sich ein in die Erfahrungen, die Wagner im Umgang mit den Tieren bisher gemacht hat. Die Pferde spiegeln das Verhalten ihres Gegenübers. "Es ist wahnsinnig interessant", sagt sie zum Coaching. "Man fängt an, über sich selbst nachzudenken. Oft hinterfragt man sich ja erstmal gar nicht."
Das Coaching, das Anton Engelbrecht mit seinen Vierbeinern anbietet, beginnt normalerweise mit einem Vorgespräch von einer bis eineinhalb Stunden, wie er erklärt. Es werde hierbei besprochen, wo die jeweilige Problematik liegt. Das Vorgespräch ist kostenlos, eine Coaching-Einheit kostet dann 80 Euro. Zu den Kundinnen und Kunden, die Hilfe bei ihm suchen, zählen etwa Führungskräfte, die den Umgang mit ihren Mitarbeitenden verbessern wollen, oder Menschen, die an ihrem Selbstvertrauen arbeiten möchten. "Das geht schnell, wenn man mit einem 500, 600 Kilogramm schweren Tier arbeitet und merkt, man kann das", sagt der 61-Jährige mit einem Lachen.
Auf einer Ranch in Arizona Erfahrungen gesammelt
Auch Menschen, die Probleme im Umgang mit dem eigenen Pferd haben, wenden sich an Engelbrecht. Die Basis seines Coachings bildet die Arbeit, die der gebürtige Aidhäuser einst während eines Aufenthalts in den USA auf einer Ranch in Arizona kennengelernt hat. Deren Besitzer habe ihn damals unter anderem in die Ausbildung der Pferde eingewiesen. Es ist nur eine von vielen Erfahrungen aus den vergangenen 30 Jahren, die der frühere Europameister im Roping, einer Disziplin des Westernreitens, in seine jetzige hauptberufliche Tätigkeit einfließen lässt. Neben dem Coaching umfasst "Toni's Roping Class" zum Beispiel auch das Angebot von Kursen im Lassowerfen.
Das pferdegestützte Coaching beginnt für viele mit einem "Absturzerlebnis", wie Engelbrecht sagt, nämlich mit der Ansage, alleine mit dem Pferd auf den Arbeitsplatz zu gehen. Im Roundpen selbst geht es dann bei der Arbeit mit dem Pferd zusammengefasst darum, dass dieses sich am Ende dazu entscheidet, zu einem in die Mitte zu kommen, sich dem menschlichen Gegenüber anzuschließen. "Pferde sind Muskel- und Energieleser", erklärt Engelbrecht. Sie reagieren auf die Energie und die Gesten, die ihr Gegenüber bewusst – oder vor allem auch unbewusst – aussendet.
So gelinge es zum Beispiel, wie der 61-Jährige weiter ausführt, im Rahmen des pferdegestützten Coachings Menschen, die eine Führungsrolle innehaben, stärker für den Umgang mit ihren Mitarbeitenden zu sensibilisieren. Etwa dadurch, dass sie durch die Arbeit mit dem Pferd erkennen, welche Signale sie durch ihr Auftreten aussenden. Oder wie es ihnen gelingen kann, zum Beispiel durch eine veränderte Ansprache ein anderes Verhältnis zum Gegenüber aufzubauen. "Wer Freundlichkeit ausstrahlt, erhält Freundlichkeit zurück", nennt Engelbrecht ein einfaches Beispiel. Genauso verhalte es sich etwa mit dem Ausstrahlen von Sicherheit.
Er lese Mensch und Pferd und erkenne so die Probleme, sagt Tina Wagner über den Coach. Durch seine freundliche und positive Art, Dinge anzusprechen und Kritik zu formulieren, falle es leicht, diese anzunehmen. Mit Pferd Jenna hat Engelbrecht zudem eine tierische Coaching-Partnerin an seiner Seite, die ihr Gegenüber genau auskundschaftet und sich nichts vormachen lässt. Nach der Einheit im Roundpen geht es für die 24-jährige Stute zurück in den Stall, wo nach getaner Arbeit nicht nur die Artgenossen auf sie warten, sondern auch ein gut gefüllter Futtereimer.
