Der Antisemitismus in Deutschland hat sich während der Corona-Pandemie deutlich verstärkt. Nicht nur an den politischen Rändern. Zu diesem Schluss kam der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, anlässlich der Veröffentlichung des aktuellen Lagebildes Antisemitismus am Mittwoch.
Besonders im Zuge der Corona-Proteste seien antisemitische Narrative - wie beispielsweise die Erzählung einer vermeintlich jüdischen Weltverschwörung - immer häufiger und offener zutage getreten. Auch im Haßbergkreis, etwa bei Corona-Demonstrationen wie in Ebern und Haßfurt, lief dieses Gedankengut mit: Rechtsextreme unterwanderten die Proteste, marschierten teils vorneweg. Sie rufen noch heute in ihren öffentlichen Chatgruppen zu den unangemeldeten Demonstrationen gegen die Politik auf - und gedenken gleichzeitig verstorbener Antisemiten und Holocaustleugner.
Was aber sagen Menschen aus dem Haßbergkreis zu dieser Entwicklung? Welche Gefahr sehen sie darin? Und wie kann sie gestoppt werden? Wir haben mit einer Rabbinerin, einem Historiker und den Leitern zweier Museen zur jüdischen Geschichte im Landkreis gesprochen.
Antje Yael Deusel: Rabbinerin aus Bamberg, in Haßfurt zur Schule gegangen
"Als Rabbinerin möchte ich den Menschen zeigen, wie reich an Spiritualität und Tradition der jüdische Glaube ist. Aus diesem inneren Antrieb heraus diene ich der liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila, die wir 2016 in Bamberg ins Leben gerufen haben. Menschen aus dem gesamten Norden Bayerns kommen in unsere Synagoge zum gemeinsamen Gebet, auch aus den Haßbergen. Auf die Frage von interessierten Neuankömmlingen, wo genau die Synagoge zu finden sei, antworte ich am Telefon manchmal: 'Dort in der Straße, wo der Streifenwagen steht.' Das führt auch zu Irritation. Doch es sollte allen Menschen klar sein, ob jüdisch oder nicht: Bei jedem Gottesdienst stehen Polizisten zu unserem Schutz vor der Synagoge. Das gehört auch heute noch zum jüdischen Alltag, in ganz Deutschland.
Auch ich habe bereits Drohungen erhalten. Angst aber habe ich keine. Und trotzdem führt mir diese Tatsache immer wieder vor Augen, dass der Antisemitismus in unserem Land nie verschwunden ist. Das zeigt auch das Verhalten einiger Weniger bei den Corona-Protesten. Sich etwa mit den Opfern der Nazi-Herrschaft gleichzusetzen, ist unsäglich. Es offenbart, wie wenig manche Menschen wirklich begriffen haben. Entweder sie tun es gedankenlos, oder um zu provozieren. In beiden Fällen haben sie aus der Geschichte nichts gelernt. Trotzdem denke ich, dass die allerwenigstens Menschen auf diesen Demonstrationen rechts sind. Aber sie lassen sich von Rechten instrumentalisieren, ob unbewusst oder nicht. Manche Menschen, das zeigt die Pandemie aufs Neue, suchen immer jemanden, dem sie Schuld zuschieben können. Leider. Das gibt es schon seit Jahrtausenden. Große Sorge bereitet mir der immer aggressivere Ton im Umgang miteinander, ob im Internet oder in der realen Welt. Auch eine andere Entwicklung stimmt mich nachdenklich: Die Gesellschaft, das ist mein Gefühl, hat sich immer mehr entfernt von der Wahrnehmung jüdischen Lebens. Doch uns gibt es nicht nur in der Vergangenheit, an Gedenktagen oder in historischen Museen. Wir sind Teil der Gesellschaft im Hier und Jetzt. Das Judentum in Deutschland lebt. Das sollte wieder stärker in den Vordergrund treten."
Herbert Becker: Träger- und Förderverein Synagoge Memmelsdorf
"Als ich Anfang der 1960er die Schule besuchte, begannen gerade die Auschwitzprozesse. Mein Lehrer war es, der mich für dieses Thema sensibilisiert hat. Als Christ stelle ich mir seither die Frage, welche Verantwortung die christlichen Kirchen an der damaligen Entwicklung hatten, an der Entmenschlichung der Juden. Antisemitismus existiert in Deutschland noch heute, er war nie weg. Auch in christlichen Gemeinden ist das Wissen um das Judentum erschreckend gering. In diesem Spannungsfeld - der in der Geschichte mitunter schwierigen Beziehung zwischen Christentum und Judentum - bewege ich mich. Ich wohne in Ebern, wo die Corona-Protestbewegung zuletzt lautstark durch die Straßen zog. Auch an meinem Haus marschierten die Menschen vorbei. Ich bin mir sicher: Von den Mitmarschierenden, die antisemitisches Gedankengut in sich tragen, sind viele noch nie einer Jüdin oder einem Juden begegnet.
Dieser Umstand offenbart: Die nicht wissen, wie sehr das Landjudentum Unterfranken geprägt hat. Dass es ein gemeinsames Miteinander gab: In Memmelsdorf waren um das Jahr 1800 knapp 40 Prozent der rund 600 Bewohnerinnen und Bewohner jüdischen Glaubens. Die Synagoge des Ortes sollte nach dem zweiten Weltkrieg abgebrochen werden. Doch sie blieb. Ihre Mauern waren zu massiv. 1993 hat unser Verein die Synagoge erworben. Die Idee: Sie sollte keine Gedenkstätte werden, kein Kranzablageplatz für Politikerinnen und Politiker. Sie soll Lern- und Begegnungsort sein, und das für alle Menschen. Die derzeitigen Entwicklungen zeigen, wie wichtig diese Orte, die sich mit dem Gemeinsamen befassen, auch heute noch sind. Manche Menschen sehen das Schild zur Synagoge zufällig. Andere kommen mit ihren Vereinen oder Schulklassen zu Führungen. Wir wollen das lange verborgene Erbe des Landjudentums wieder stärker ins Gedächtnis rufen und zeigen: Es gibt nicht nur eine kollektive Vergangenheit, sondern auch eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft."
Thomas Schindler: Historiker und Stadtarchivar Haßfurt
"Das Judentum hat mich schon immer fasziniert, nicht nur als Historiker. Seit Jahrtausenden ist es eine Konstante in der Weltgeschichte. Trotz wiederholter Epochen von Vertreibung und Vernichtung existiert das jüdische Volk auch heute noch. Nein, es hat sogar immer wieder eine neue Blüte erlebt, wie der Blick nach Israel zeigt. Dorthin - genauer: nach Jerusalem - reise ich seit mehr als 20 Jahren zwei bis drei Mal im Jahr, auch um im Zentralarchiv für die Geschichte des jüdischen Volkes die Akten ehemaliger jüdischer Gemeinden aus Franken zu verzeichnen. Mit Anfang 40 bin ich selber zum jüdischen Glauben konvertiert. Den Gedanken zu diesem Schritt trug ich zuvor schon 20 Jahre mit mir herum, lange vor meinem Studium der Geschichte in Würzburg. Gegen mich persönlich gerichteten Antisemitismus habe ich seither noch nicht erlebt.
Aus Sicht eines Historikers lässt sich sagen: Der Antisemitismus existiert nicht erst seit der Schoah, das sollte den Menschen klar werden. Seine Wurzeln reichen deutlich weiter zurück. Die zentralen Elemente des rassistischen Antisemitismus der Moderne finden sich bereits im theologischen Antijudaismus der christlichen Kirchen. Judenpogrome gab es beispielsweise bereits zur Zeit der Kreuzzüge um 1100 nach Christus. Die Stereotype von damals haben die Jahrhunderte überdauert und haben sich gar im kulturellen Code verankert. 'Der Jude ist an allem Übel der Welt schuld', lautet das zentrale und gefährliche Narrativ. Und das bis heute, wie die Pandemie offenbart, wenn etwa von globalen Eliten die Rede ist. Gewisse Strömungen innerhalb der Corona-Protestbewegung sind für dieses antijüdische Stereotyp besonders anfällig. Es ist aber kein rein rechtsextremistisches Problem. Meiner Meinung nach liegt das auch an einem grundlegenden Mangel an Geschichtsbewusstsein hierzulande. Es bräuchte eine systematische Bildungsoffensive gegen Antisemitismus, die sich nicht nur auf die Nazi-Zeit beschränkt und die für alle gilt, ob Lehrer oder Schüler. Ich bin jedoch pessimistisch, dass diese Aufklärung all jene Menschen erreicht, die sie am nötigsten hätten."
Bernd Brünner: Leiter des Museums Jüdische Lebenswege Kleinsteinach
"Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie mein Vater begann, sich mit der jüdischen Vergangenheit unseres Dorfes zu befassen. Vor der Gebietsreform war er Bürgermeister von Kleinsteinach. Und obwohl er diesen Ort und seine Geschichte gut kannte, fand er auch vieles heraus, das er noch nicht wusste. Genau so erging es mir. Ich setzte diese Arbeit fort, gemeinsam mit neun Mitstreiterinnen und Mitstreitern des Arbeitskreises Landjudentum Kleinsteinach. Wir durchstöberten Dachböden, suchten in Archiven, befragten Zeitzeugen. Das Ergebnis, nämlich wie vital das jüdische Leben in Kleinsteinach über 500 Jahre hinweg war, kann man seit 2015 in unserem Museum sehen. Am 19. Juni 1942 haben die Nazis die letzte jüdische Familie des Ortes deportiert. Seither gibt es keine Juden mehr in Kleinsteinach - leider.
Die wirkliche und intensive Auseinandersetzung mit diesen Gräueltaten hat meiner Meinung nach zu spät begonnen. Das Erinnern, so mein Gefühl, setzte überwiegend erst in den 1990er Jahren ein. Auch das ist ein Grund, warum antisemitische Erzählungen bis heute in den Köpfen der Menschen geblieben sind. Ich bin christlichen Glaubens. Es ist beschämend, wenn ich die aktuelle Entwicklung betrachte. Wenn Gruppierungen aus der rechten Szene durch die Straßen ziehen, die unsere jüdischen Mitmenschen als Gefahr darstellen. Jeder Vergleich der aktuellen Corona-Politik mit der Nazi-Diktatur ist zutiefst falsch und gefährlich, weil er das Vergangene verharmlost. Wir arbeiten in unserem Museum auch diese dunkle Vergangenheit auf. Hier versuchen wir den Menschen die Geschichte näherzubringen. Aber nicht nur das: Immer wieder besuchen uns auch Nachkommen von jüdischen Kleinsteinacherinnen oder Kleinsteinachern. Sie kommen, um etwas über die eigene Familiengeschichte herauszufinden. Wenn sie durch die Straßen des Ortes gehen, in denen schon ihre Ahnen gewandelt sind, dann war das für sie immer sehr ergreifend. Auch für mich. Uns ist wichtig, die Geschichte nicht nur in Vitrinen einzuschließen. Das Museum will auch ein Lern- und Lehrort sein, ein Ort der Begegnung."