Wer jemals in eine fremde Welt geworfen wurde, kann nachempfinden, wie Tom zumute ist. In "Tom auf dem Lande" gerät die Titelfigur, ein schwuler junger Mann, in einen Teufelskreis. Das Stück des Frankokanadiers Michel Marc Bouchard ist in der Regie von Uwe Reichwaldt im Intimen Theater des Theaters Schloss Maßbach zu sehen.
Tom (Benjamin Jorns) steht staunend vor einer bedrohlichen Welt, als er sich aus der Anonymität seines großstädtischen Yuppie-Lebens in ein Provinznest begibt, um der Beerdigung seines tödlich verunglückten Liebsten beizuwohnen. Dessen Mutter (Jacqueline Binder) betreibt zusammen mit ihrem älteren Sohn (Maßbach-Debütant Jan-Hendrik Kroll) eine Landwirtschaft.
Jede Gewalttat wird mit der Verteidigung der Normalität gerechtfertigt
Die Mutter ahnt nichts vom zweiten Leben des verstorbenen Sohnes, verdrängt und verleugnet alles, was ihrem engstirnigen Weltbild widerspricht. So erwartet sie eine trauernde Braut und keinen "Kumpel". Das ist die erste Ebene der Tragödie, auf der man sich noch relativ sicher bewegen kann. Auf der zweiten Ebene gerät der Boden allerdings schwer ins Schwanken. Sie wird beherrscht vom psychopathischen Charakter des älteren Sohnes, der vorgibt, die Mutter vor allen Unbilden schützen zu wollen.
Lebenslange Kränkungen und seine Abhängigkeit von der Mutter ließen ihn zu einem homophoben Gefühlsmonster werden. Im schwulen Gast wittert er das ideale Opfer, um seinen Begierden Nahrung zu geben: sadomasochistischen Praktiken aber auch einer unstillbaren Sehnsucht nach körperlicher Nähe. Jede Gewalttat rechtfertigt er damit, nichts weiter als eine Normalität zu verteidigen, an die er sich verzweifelt klammert. Dass diese Melange aus Glauben, Lügen, Verdrängung, der Verachtung Anderslebender und Selbstüberheblichkeit letztlich in einer Katastrophe enden wird – keine Frage. Der Autor beschönigt nichts.
Alles kündet hochsymbolisch von einer abgeschotteten Welt
Wie aber setzt das Inszenierungsteam um Uwe Reichwaldt, Absolvent des renommierten Max Reinhardt Seminars, diese Idee um, ohne Zuschauer und Zuschauerinnen zu arg zu schockieren? Indem es das Publikum regelrecht in diese andere Welt hineinzieht. Zum Beispiel durch das Bühnenbild von Robert Pflanz, das wie ein Türöffner in ein mystisches Paralleluniversum wirkt, in dem die Zeit stehengeblieben ist - ein Sammelsurium aus dunklen Bauernmöbeln, schwerem Kirchengebälk mit vergitterter Beichtstuhlnische und mächtigen Flügeltüren.
Alles kündet hochsymbolisch von einer abgeschotteten Welt - von jeher idealer Nährboden für Unmenschlichkeit. In die Geschichte hineingezogen wird man auch durch die Untermalung der Handlung durch Bach'sche Orgelklänge, einen Walzer von Schostakowitsch und ein Thema aus der Verfilmung der Novelle "Venus im Pelz".
Die Kostüme von Jutta Reinhardt und Elissa Liebhardt verstärken den Eindruck, man befände sich in einer Art Mysterienspiel. Sie lassen den Eindringling wie eine helle Engelsgestalt wirken und Mutter und Sohn wie Wesen aus der Unterwelt. Dazu erscheint im Hintergrund eine nahezu bewegungslose, wie Tom gekleidete Frau (Anna Schindlbeck) als Verkörperung der Illusion der Braut des Toten. Erst als sich Tom nach anfänglichem Widerstand unerwartet dem Gewaltsystem fügt, wird aus dem Gespenst ein lebendiges Geschöpf, das das Treiben mit wachsender Panik verfolgt.
Benjamin Jorns, Jan-Hendrik Kroll, Jacqueline Binder und Anna Schindlbeck sind diejenigen, die Zuschauer und Zuschauerinnen im Bann halten, wenn sich diese freiwillig in den "Darkroom" haben führen lassen, der hinter den Fassaden bürgerlicher Wohlanständigkeit lauern kann. - Ein Theaterereignis, das aus der Reihe tanzt, ein Wagnis zwar, aber ein im Sinne des neuen Maßbacher Schwerpunkthemas "Kontaktversuche" rundum gelungenes.
Vorstellungen im Intimen Theater und auf Gastspielreisen bis 12. November. Infotelefon (09735) 235. www.theater-massbach.de