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Bad Kissingen
Die geheimnisvolle Welt von Schlaraffia in Bad Kissingen: zwischen Freundschaft und Spiel, Burgen und Reychen
Die Parallelwelt der Schlaraffen gibt es auf der ganzen Erde. Was hat es mit "Lulu" und dem "Tamtam" auf sich? Und was treibt erwachsene Männer ins Mittelalter?
Was hat es mit dem Männerbund Schlaraffia auf sich?
Foto: Daniel Peter | Was hat es mit dem Männerbund Schlaraffia auf sich?
Simon Snaschel
 |  aktualisiert: 24.04.2025 20:00 Uhr

Tamtam! Der Gong ertönt, das Spiel beginnt. Die Ritter der benachbarten "Reyche" reiten in die Burg in Bad Kissingen ein. Der Zeremonienmeister kündigt die Gäste feierlich an und Fanfaren erklingen, während einer nach dem anderen die Schwertergasse der in rote Gewänder gehüllten Gastgeber durchschreitet. Die Männer tragen Hüte, Umhänge oder Schärpen, verschiedene Abzeichen schmücken ihre aufwendig gestalteten Kostüme. "Lulu!", begrüßen sie sich. Eine schier unwirkliche Szene.

Die Männer, die sich hier im Untergeschoss eines Wohnhauses in der Friedrich-List-Straße in Bad Kissingen treffen, sind Schlaraffen. Und damit Teil einer weltweiten Vereinigung. Der Männerbund Schlaraffia wurde im Jahr 1859 von deutschsprachigen Künstlern in Prag gegründet. Seine Maxime: die Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor.

Schlaraffische Reyche gibt es von Deutschland bis Südamerika und Asien

Reyche, wie die Schlaraffen ihre örtlichen Vereine nennen, gibt es auf der ganzen Welt. Vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch im restlichen Europa, in den Vereinigten Staaten, Südamerika oder auch Asien. Mehr als 250 sind es derzeit, es gibt etwa 9000 aktive Schlaraffen.

Die Maxime der Schlaraffen: Freundschaft, Kunst und Humor.
Foto: Daniel Peter | Die Maxime der Schlaraffen: Freundschaft, Kunst und Humor.

Ihre Vereinsheime, liebevoll eingerichtet und geschmückt, heißen Burgen. Es gibt sie unter anderem in Würzburg, Schweinfurt und eben Bad Kissingen: "An den Quellen" nennen die Schlaraffen ihr Reych hier. Unter ihnen sind Lehrer, Musiker, Handwerker, alle Gesellschaftsschichten. Allesamt Männer. Frauen sind bei Schlaraffia nicht zugelassen.

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Worum es dabei geht, ist so leicht gar nicht zu erklären. Im Prinzip ist Schlaraffia ein Rollenspiel, eine Art Parallelwelt, in die die Mitglieder während ihrer Treffen eintauchen – wie andere es mit Videospielen tun. Die Veranstaltungen, sogenannte Sippungen, folgen weltweit einem festen Ablauf: So besuchen die Schlaraffen unterschiedlicher Reyche sich gegenseitig und verbringen im Wesentlichen einen geselligen Abend mit musikalischen Einlagen, kreativen Redebeiträgen und anderen Beteiligungen. Ihr Wahlspruch aus dem Lateinischen lautet "In arte voluptas", frei übersetzt also "Freude an der Kunst".

Als 'Brillofix, der Linsenspitzer' führt Thomas Lotter (rechts) durch die Sippung.
Foto: Daniel Peter | Als "Brillofix, der Linsenspitzer" führt Thomas Lotter (rechts) durch die Sippung.

Sobald der Gong, sie nennen ihn hier Tamtam, ertönt und den Beginn des Spiels einläutet, schlüpfen die Schlaraffen in ihre Rollen. Sie sprechen in einer eigenen, mittelalterlich angehauchten Sprache, dem Schlaraffenlatein. Aus Männern wie dem Optiker Thomas Lotter oder dem Juristen Carsten Ahlers werden die Ritter "Brillofix, der Linsenspitzer" und "Pro Nixx, der Viel-Seitige". Die verbale Allzweckwaffe der Schlaraffen ist dabei das Wort "Lulu": Es gilt als Gruß, Lob oder auch Zustimmung.

Politik und Relegion sind bei Schlaraffia Tabuthemen

Nach gut anderthalb Stunden ertönt der Tamtam in Bad Kissingen ein zweites Mal. Pause. Die Männer nehmen ihre Hüte ab und kehren zurück in die Wirklichkeit. Am Tisch sitzen jetzt wieder Thomas oder Carsten. Es wird gemeinsam gegessen und sich weiter ausgetauscht. Nun wieder in Alltagssprache. Auch hier, wie im schlaraffischen Spiel, jedoch nicht über zwei Dinge: Politik und Religion sind verpönt. Abseits ihrer Veranstaltungen verfolgen die Schlaraffen keine gesellschaftlichen oder politischen Motive, sie treffen sich schlicht zum Vergnügen.

Auch musikalische Beiträge sind Teil der Sippung.
Foto: Daniel Peter | Auch musikalische Beiträge sind Teil der Sippung.

Im Gespräch mit den Männern kommt man ihren Motiven auf die Spur. Denn die Aussagen gleichen sich im Kern: Die Männer entziehen sich dem Alltag und seiner Ernsthaftigkeit für einige Stunden. Sie können Kind sein. Sie können in Rollen schlüpfen, die sie im normalen Leben niemals ausleben könnten. Ihre Berufe sind hier bedeutungslos, wie auch schlechte Nachrichten aus dem Weltgeschehen. Und bei alledem nehmen sie sich selbst nicht zu ernst: Hält man sie nach einem Besuch für vollkommen verrückt, habe man alles richtig verstanden, heißt es scherzhaft.

Die Pflege der Freundschaft zählt zur Maxime bei Schlaraffia

Mehrheitlich gehören die Schlaraffen älteren Semestern an. Seit 70 Jahren gibt es die Vereinigung in Bad Kissingen. Entsprechend sind die Männer eng verbunden, kennen sich seit Jahrzehnten.

Als der Gong erneut ertönt und die Sippung weitergeht, wird deutlich: Die Pflege der Freundschaft spielt hier eine sehr wesentliche Rolle. Besucher aus fremden Reychen werden zu "Ehrenrittern" ernannt. Das geschieht, wenn sich ein Mitglied über viele Jahre hinweg verdient gemacht hat. Teilweise können die Gäste aus Coburg, Erfurt oder Meiningen ihre Besuche in Bad Kissingen schon gar nicht mehr zählen.

Kreative Verkleidungen gehören zum schlaraffischen Spiel.
Foto: Daniel Peter | Kreative Verkleidungen gehören zum schlaraffischen Spiel.

Ein Bad Kissinger Schlaraffe hatte kurz vor der Sippung Geburtstag. Seine Freunde lassen ihn mit Musik- und Redebeiträgen hochleben. Die Laudationen ähneln Büttenreden: voller Kreativität und Humor, mit einigen liebevollen Spitzen und in Versform vorgetragen. Doch nicht immer geht es lustig zu: Die Schlaraffen gedenken würdevoll ihrer Toten und schicken Kraft und gute Gedanken an die Erkrankten aus anderen Reychen. Die Verbindung unter den Männern ist bei aller Absurdität spürbar.

Gegen Ende der Sippung wird noch einmal gesungen. Die Schlaraffen haben ein eigenes Liedbuch, aber auch für Gassenhauer aus der profanen Welt, wie die Männer sie gerne nennen, ist Platz: "Ein Freund, ein guter Freund", schmettert der Saal den Ohrwurm aus dem Filmklassiker "Die Drei von der Tankstelle". Auf gewisse Art und Weise bringt das den Kern des schlaraffischen Spiels noch einmal auf den Punkt.

Schlaraffische Sippung in Bad Kissingen: Der Leitspruch lautet 'In arte voluptas'.
Foto: Daniel Peter | Schlaraffische Sippung in Bad Kissingen: Der Leitspruch lautet "In arte voluptas".

Wenig später erklingt der Gong ein viertes und letztes Mal. Das Spiel endet. Die Wirklichkeit erhält wieder Einzug. Tamtam!

Schlaraffia in Bad Kissingen

Das Schlaraffen-Reych "An den Quellen" in Bad Kissingen gibt es seit 1955. Ihr Vereinsheim haben die Schlaraffen in der Friedrich-List-Straße 10 a. Treffen finden zwischen Oktober und April immer dienstags um 20 Uhr statt und sind frei zugänglich. Zudem haben die Schlaraffen zweimal monatlich ihren öffentlichen Stammtisch in der Martin-Luther-Straße ("Mein Kissinger Kaffee"). Die Termine und weitere Informationen gibt es unter www.an-den-quellen.de
Quelle: si
 
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