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WÜRZBURG
Demenz: Reise ins Anderland
Demenz: Reise ins Anderland       -  Wie sieht ein Leben mit Demenz aus? Wie gehen Angehörige und Pflegende mit der Krankheit um? Erich Schützendorf beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Demenz. Nun stellte er seine Thesen in der „Zukunftswerkstatt Demenz“ der Seniorenwohnanlage am Würzburger Hubland vor.  Für Schützendorf ist Demenz wie eine Reise, bei der sich Reisende und Reisebegleiter wohl fühlen müssen. „Wir lassen Reisende nach Anderland los und versuchen nicht, sie bei uns in Normalien zurückzuhalten.“ Dies sieht Schützendorf als ersten Schritt für alle, die Menschen mit Demenz auf ihrer Reise begleiten möchten.  Prävention, Demenzvorbeugung heißt für ihn, die Möglichkeit des geistigen Abbaus in den Lebensentwurf einzuplanen und Vorsorge zu treffen. Vorsorge nicht im Sinne von Verhinderung, sondern von der Überlegung: Wie gestalte ich diese Phase?  Weil er als Pflegebedürftiger lieber ins Grüne statt auf weiße Decken starren würde, habe er sich beispielsweise einen gläsernen Wintergarten ans Haus anbauen lassen, in den ein Pflegebett genau reinpasst. An heißen Tagen will er von dort in den Regen hinaus gebracht werden. Das hat er bereits festgelegt. Angehörigen rät er, statt den alten Menschen wiederfinden zu wollen, dem lieb gewonnenen Menschen im Jetzt und Hier zu begegnen. „Poesie zählt in Normalien mehr als Wissen.“ Für die Reise ins Anderland, so Schützendorf, müsse man sich von der Überbewertung der Rationalität, des Verstandes trennen. Der Mensch sei mehr als nur Verstand. Daneben machen Gefühle, Sinnlichkeit und vieles mehr einen Menschen aus. „Menschen bleiben auch Menschen, wenn sie nicht (mehr) vernünftig handeln oder mit dem Verstand ihre Welt schaffen“, sagt Schützendorf. Es sei nicht nur schlecht, sondern könne auch schön sein, stehe einem der Verstand nicht mehr im Wege. Betrachtet etwa Frau Schmitz Tag für Tag den Baum vor dem Fenster als ihren Freund, von dem sie jedes Blatt kennt, dann geht es nicht um das Wissen, was das für ein Baum ist. Es gehe vielmehr darum, sich neben sie zu setzen und ihr Staunen zu teilen. In Anderland, so Schützendorf, komme es mehr auf Passivitäten an als auf Handeln. Was in Normalien Sinn macht – zweckgerichtetes Handeln zu fordern, vernünftige Erklärungen zu geben, permanent verbal anzuleiten – ist in Anderland sinnlos. Besser ist es, sich auf das zauberhafte Andere einzulassen. Statt entrüstet zu sagen: „Was machen Sie denn da?“, dem anderen lieber mit der Haltung begegnen: „Was machen Sie da Interessantes?“ Und so weit es irgend geht, die vermeintlich sinnfreie Handlung zulassen. Statt Essen mit den Fingern zu verbieten, die Hände einfach vorher waschen. Statt Trommelübungen oder andere spielerische Experimente zu verbieten und streng darauf hinzuweisen, dass „wir doch jetzt essen und nicht klopfen wollen“ „uns anziehen wollen, statt die Bettdecke zu inspizieren“, lieber ganz nebenbei zum Essen, zum Aufstehen regelrecht verführen.“ „Wir dürfen die Reisenden in Anderland alleine leiden lassen, vorausgesetzt, wir kehren bald wieder zurück. Für echte, langfristige Begleitung, braucht es den Mut, die eigene Begrenztheit zu akzeptieren.“ Der Punkt, der vielen Pflegenden am schwersten fällt. Ein Problem, das noch verschärft wird durch hohen Eigenanspruch und Vorschriften sowie Prüfung und Bewertung der Pflege, die sich allein an Funktionalitäten orientiere. Tatsächlich aber, betont Schützendorf, könne niemand permanent für andere da sein. Es könne keiner aushalten, von anderen Menschen ständig gefordert zu werden. Unerlässlich seien daher Ruhepausen, Rettungsboote und Inseln im Meer der Verrücktheit. Das könne das Schwesternzimmer sein, in dem auch mal der Vorhang zugezogen wird, eine zweite schalldichte Tür, die das Dauerrufen unhörbar macht, ein Schaukelstuhl im Bewohnerbereich, in dem Pflegende nur körperlich präsent sind.  Das alles, rät er Einrichtungsleitern, müsse nicht nur erlaubt sein, sondern jeweils von den Mitarbeitern nach ihren Wünschen gestaltet. Zwingend dazu gehöre dann aber auch, so der Demenzprofi, die Bewohnerzimmer so einzurichten, dann es für die Pflegenden attraktiv ist, auch weder dorthin zurückzukehren. „In Anderland holt man die Menschen nicht ab, wo sie stehen, sondern  begegnet ihnen, wo sie sind.“ Auf die Reisenden zugehen, sie anschauen, auf sie (zurück) zu blicken  (lateinisch: re-spectare). Mehr brauche es nicht. „Reden Sie nicht so viel, sondern halten einfach mal die Klappe und seien Sie bereit, nur Händchen zu halten, anders als verbal zu kommunizieren – und sich hinein zu fühlen ins Anderland. Denn auch wenn sie keine Worte mehr haben, ausdrücken können sich die Menschen bis zum Schluss.“ Die Reise nach Anderland ist zu Hause und für die Angehörigen allein oft irgendwann nicht mehr möglich. Zu sehr weicht das dionysische Verhalten von gesellschaftlichen Normen ab. Diese Tatsache müsse man akzeptieren, so Schützendorf. Einrichtungen, die es schaffen, oben beschriebene Biotope zu sein, seien dann für alle die beste Lösung. Die Diskussion darüber allerdings, wo die Grenze des Erträglichen in einer immer toleranteren Gesellschaft liegt, müsse geführt werden. Immer wieder neu.
Foto: Thinkstock | Wie sieht ein Leben mit Demenz aus? Wie gehen Angehörige und Pflegende mit der Krankheit um? Erich Schützendorf beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Demenz.
Traudl Baumeister
Traudl Baumeister
 |  aktualisiert: 16.12.2020 10:46 Uhr

Denn auch wenn sie keine Worte mehr haben, ausdrücken können sich die Menschen bis zum Schluss.“

Wo ist die Grenze des Erträglichen? Die Reise nach Anderland sei – anders als funktionale Pflege – reine Beziehungsarbeit. Und brauche daher eigentlich auch zwingend Selbsterfahrung. Jede Gesellschaft grenzt Menschen aus. Daher müssen wir darüber diskutieren, wo im Fall von Demenz die Grenze des Erträglichen ist und wie weit wir sie eventuell verschieben können.

Die Reise nach Anderland ist zu Hause und für die Angehörigen allein oft irgendwann nicht mehr möglich. Zu sehr weicht das dionysische Verhalten von gesellschaftlichen Normen ab. Diese Tatsache müsse man akzeptieren, so Schützendorf. Einrichtungen, die es schaffen, oben beschriebene Biotope zu sein, seien dann für alle die beste Lösung. Die Diskussion darüber allerdings, wo die Grenze des Erträglichen in einer immer toleranteren Gesellschaft liegt, müsse geführt werden. Immer wieder neu.

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