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MAINFRANKEN
Besuch auf dem Friedhof: Und unter mir die Toten...
Die letzte Ruhe Der Friedhof ist ein Ort, an dem Leben und Tod nahe beieinanderliegen – und einem die eigene Vergänglichkeit vor Augen geführt wird. Dort begegnen sich tieftraurige und lustige Menschen. Ein Besuch eines Ruhepols inmitten der hektischen Stadt.
Ein Ort zum Nachdenken: Auf dem Friedhof trifft man auf viele Menschen – fröhliche, traurige und in sich gekehrte.
Foto: ivana biscan | Ein Ort zum Nachdenken: Auf dem Friedhof trifft man auf viele Menschen – fröhliche, traurige und in sich gekehrte.
Lena Berger
 |  aktualisiert: 11.11.2021 14:27 Uhr

Das Leben ist endlich. Nirgends wird das deutlicher als auf einem Friedhof. Doch ein Friedhof ist viel mehr als ein Ort der Trauer. Er ist ein Mikrokosmos inmitten der hektischen Stadt. Platz für Gedanken – über die Menschen, die dort unterwegs sind und über den eigenen Tod.

Gedämpft höre ich den Autolärm von außen, ab und an übertönt eine Sirene das gleichförmige Rauschen der Autos. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel. Die Kraft, die sie noch vor ein paar Wochen hatte, ist jetzt im Herbst schon längst verloren.

Die Glocke an der Aussegnungshalle läutet unaufhörlich – das Zeichen dafür, dass der Gedenkgottesdienst für den Verstorbenen zu Ende ist und die Trauergemeinde zum Grab zieht. Die Bestatter gehen voran und schieben den hellen Sarg mit dem üppigen Blumenschmuck über die Wege, genau auf mich zu. Die Trauergemeinde folgt dem Sarg mit gesenkten Köpfen. Schwarz gekleidete Menschen, alle um die 60 Jahre alt, vielleicht 20, 25 Leute. Ich versuche, der Trauergemeinde auszuweichen, stehe von der Bank am Wegesrand auf und gehe durch die Gräberreihen weg. Wie begegnet man den Trauernden? Wegschauen und so tun, als ob man den Trauerzug nicht sieht oder die Szenerie beobachten? Ich versuche, mich in die Situation der Trauernden zu versetzen und entscheide mich für Ersteres. Im Kopf fängt es gleichzeitig an zu arbeiten. Wer war der Tote? Woran ist er gestorben? War er alt? Hat er noch Familie? Fragen, die wohl nie beantwortet werden.

Für die Bestatter ist es ein Tag wie jeder andere. Für sie ist es Alltag, die sterblichen Überreste eines Menschen in ein zwei Meter tiefes Loch herabzulassen. Für die Menschen, die hinter ihnen laufen, einer der wohl schlimmsten Momente in ihrem Leben. Aber der Tod gehört zum Leben dazu. Ist in den Gesichtern der Trauernden beim Gang zum Grab der Schmerz und die Trauer abzulesen, scheint es nach der Beisetzung oft befreiend für sie zu sein: Nicht über den Verlust des Menschen in Schmerz zu versinken, sondern sich daran zu erfreuen, dass man den Lebensweg mit ihm gemeinsam bestreiten durfte.

Ein Friedhof ist nicht nur ein Ort der Trauer und der Traurigkeit, es ist auch ein Ort, der voller Leben steckt. Das Leben kommt durch Besucher und Friedhofsarbeiter. Wie die Gärtner, die wie die Bienen in den Wochen vor Allerheiligen auf die Friedhöfe ausschwärmen, um die Gräber für dieses christliche Fest, an dem aller Heiligen gedacht wird, herzurichten. Die Sommerblumen haben ihr Werk getan und werden durch herbstliche Bepflanzung ausgetauscht. Todernst geht es dabei nicht zu. Man denke gar nicht darüber nach, dass unter der Erde tote Menschen liegen, sagt einer. Dafür habe man überhaupt keine Zeit. Für sie sei es einfach ein Stück Erde, das bepflanzt wird. Viel mehr Gedanken müsse man sich über die Eichhörnchen und Kaninchen machen, die die Gräber gerne als Wohnung für ihre große Kinderschar oder Vorratskammer für den Winter nutzen.

Auf dem Friedhof sind auch Bestatter anzutreffen, die den Großteil ihres Tages mit traurigen Menschen zu tun haben. Vielleicht üben gerade deshalb diesen Beruf so humorvolle und fröhliche Menschen aus?

„Man denkt nicht darüber nach, dass unter der Erde tote Menschen liegen.“
Ein Gärtner, der auf dem Friedhof arbeitet

Obwohl dieser Herbsttag warm und sonnig ist, hat sich eine alte Frau eine Bank in einer dunklen, kalten Ecke für ihre Rast ausgesucht. Dick eingepackt mit Mütze und Winterjacke sitzt sie eingesunken da, den Rollator vor sich. Ihre Gesichtsfarbe ist blass. An was denkt sie? Ist sie krank? Vielleicht weiß sie, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Warum hat sie sich eine so düstere Ecke ausgesucht? Liegt in der Nähe ihr Ehemann begraben? Ihre Körperhaltung signalisiert: Lasst mich bloß in Ruhe.

Der Friedhof ist eine Oase der Ruhe in der Stadt. Mir erzählt ein Gärtner, der gerade ein Grab neu bepflanzt, dass junge Leute, die in der Nähe arbeiten, dort öfter ihre Mittagspause verbringen. Dass im Hochsommer mal jemand unter dem kühlenden Blätterdach des Friedhofs übernachtet hat, weil er die Hitze in seiner Wohnung nicht mehr ertragen hat. Dass eine junge Mutter regelmäßig ihr Kind in seinem Wagen kreuz und quer über den Friedhof schiebt, froh um die Ruhe, die sich über dem Gelände ausbreitet.

Der Tag neigt sich langsam seinem Ende zu. Die Sonne steht jetzt so tief, dass sie einen blendet. Gräber, so groß wie manches WG-Zimmer eines Studenten liegen in der Nähe des Haupteingangs. Sie scheinen zu rufen: Ich war im Leben eine wichtige Person, so muss ich es im Tod auch sein. Aber ist das wichtig? Muss ich den Reichtum, den ich im Leben hatte, auch im Tod weiterführen?

Ein harter Kontrast zu den opulenten Gräbern ist das Gemeinschaftsgrab der früh verstorbenen Kinder. Sie hatten gar keine Gelegenheit, Spuren in der Welt zu hinterlassen. Oder das Urnengemeinschaftsgrab daneben. Vor- und Nachname, Geburts- und Sterbejahr – mehr ist von diesen Menschen nicht zu erfahren. Haben sie kein Geld für ein Einzelgrab? Waren sie zu Lebzeiten gerne in Gesellschaft und wollen es im Tod auch wieder sein? Fragen, die unbeantwortet bleiben.

Bei einigen Namen auf den langen schmalen Steinplatten fehlt das Sterbedatum. Warum lassen Leute ihre Namen auf diese Platten einmeißeln, obwohl sie noch quicklebendig sind? Haben sie Angst, vergessen zu werden? Haben sie keine Angehörigen, die das für sie nach ihrem Tod erledigen? Ein Friedhofsarbeiter erzählt mir, dass das in der Tat Gründe sind, die dabei eine Rolle spielen. Und dass es gar keine Seltenheit ist, dass Namen schon auf Grabsteinen stehen, obwohl sich die Menschen noch bester Gesundheit erfreuen.

Im Schatten wird es kalt. Die Sonne verschwindet allmählich hinter den bunt gefärbten Blättern. Eichhörnchen hüpfen über die Wege, sie sammeln Vorräte für den Winter. Stören lassen sich die putzigen Tierchen von den Friedhofsbesuchern in ihrer Arbeit selten. Ein älterer Mann scheint das alles nicht wahrzunehmen. Lange beobachte ich ihn, wie er über den Friedhof hetzt. Er geht quer durch die Grabreihen, in der Hand mehrere rote Grablichter – wie es scheint mit einem festen Plan im Kopf. Allmählich werden die roten Lichter in seiner Hand weniger. Am letzten Grab angekommen, holt er aus der Grableuchte das abgebrannte Licht heraus, zündet das neue an und geht. Noch ein Schlenker am Mülleimer vorbei und schon hetzt er wieder gen Haupteingang.

Die eigene Vergänglichkeit wird auf dem Friedhof deutlich vor Augen geführt. Bald schließt der Gottesacker, die Sonne geht langsam unter. Während ich Richtung Ausgang gehe, sticht ein Grab aus dem Meer der Gräber heraus. Vollgestellt mit den kitschigsten Engeln und Dekorationsfiguren, erregt es Aufmerksamkeit. Am Holzkreuz blättert der Lack ab, Namen, Geburts- und Sterbedatum sind aber noch gut zu erkennen. Der junge Mann, der dort begraben liegt, ist nur wenige Monate nach mir geboren – gestorben im Jahr 2012. Laut dem bayerischen Landesamt für Statistik starben in diesem Jahr 125 431 Menschen: Der junge Mann mit dem kitschigen Grab ist einer von ihnen. Irgendwann werden wir alle nur noch eine Zahl in dieser Statistik sein.

Wie wird es bei mir sein? Wer wird mein Grab pflegen? Diese Gedanken kreisen mir durch den Kopf, als ich durch den Haupteingang auf die Straße trete.

Weitere Informationen:

Bleibende Erinnerung: Ein Engel wacht auf einem Grabstein über die Toten.
| Bleibende Erinnerung: Ein Engel wacht auf einem Grabstein über die Toten.
 
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