Der blaue Lastwagen mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den in sich zusammengebrochenen Betontrümmern auf. Ein trauriges Fanal für die Katastrophe. Mindestens 40 Menschen sind beim Einsturz der Morandi-Brücke am Dienstagmittag bei Genua gestorben, darunter auch drei Minderjährige. Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbrach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-jährige Fahrer des Lkw einer italienischen Zeitung nach dem Unglück erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbrücke in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen.
Luigi bremste, dann sah er, wie vor ihm Dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Auch der Polizei hat er bereits am Dienstag von der Apokalypse erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsgang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtrichtung zurück. Der Motor lief noch, Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt. „Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“ Auf einem Video, das Augenzeugen aufgenommen haben, ist der Einsturz der Brücke zu sehen. Man sieht dunkle Wolken, weißen Staub und einstürzende Betonpfeiler. „Oh Gott, oh Gott“, ruft ein Augenzeuge bei diesem Anblick voller Panik.
Es gibt mindestens 40 Tote
In Italien ist das Unvorstellbare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem das halbe Land sich in Bewegung setzt, um das Mittsommernachtsfest Ferragosto im Kreis der Familie zu feiern, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbrücke bei Genua ein. Auch Urlauber aus Deutschland und Österreich sind in diesen Tagen unterwegs. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt bei Genua auf der A 10 zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.
Neben den mindestens 40 Toten melden die Behörden 16 zum Teil Schwerverletzte. Die Feuerwehr sucht mit Suchhunden, obwohl es kaum Hoffnung auf Überlebende gibt. In der Nacht zum Mittwoch wollen Helfer noch Stimmen unter den Trümmern gehört haben. Am Morgen waren sie verstummt. Hubschrauber bringen Verletzte und tote Körper fort, am Mittwochnachmittag müssen die Bergungsarbeiten unterbrochen werden, weitere Einstürze drohen. Mehr als 30 Autos und drei Laster sollen wie Spielzeug in die Tiefe gekracht sein. Sie begruben Menschen unter sich. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedeltes Industriegebiet, sonst hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben. Elf Wohnblocks in unmittelbarer Nähe wurden evakuiert, 632 Menschen haben nun kein festes Obdach mehr.
Der Staatsanwalt erkennt kein zufälliges Schicksalsereignis
„Nein“, sagt Oberstaatsanwalt Francesco Cozzi am Mittwoch sehr bestimmt auf die Frage von Journalisten in Genua, ob es sich bei dem Einsturz um ein zufälliges, fatales Schicksalsereignis, eine „fatalita“ handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen unbekannt. Denn es scheint eindeutig, dass menschliche Nachlässigkeit die 1967 eröffnete und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat. Ein Unwetter zog am Dienstag über Genua hinweg, an der Brücke fanden Bauarbeiten statt, vielleicht riss einer der Stahlträger. Augenzeugen berichten von einem Blitz, der im Moment des Einsturzes zu sehen gewesen sei.
„Brücken stürzen nicht zufällig ein“, behauptet der aus Genua stammende italienische Star-Architekt Renzo Piano. Er müsse an die Menschen in den Autos denken, an Urlauber, Fahrer, Arbeiter und ihre Augen. „Wenn man über eine Brücke fährt, sind die Augen noch offener, weil man sich zwischen oben und unten aufgehängt in der Luft befindet“, sagt Piano. Brücken seien Symbole. Man kann hinzufügen: Der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua ist auch ein Symbol – für die Nachlässigkeit Italiens mit sich selbst. Denn wer das Land in diesen Jahren erlebt und beobachtet, wundert sich kaum noch über derartige Ereignisse.
#Genova #14ago 14:30, prosegue l’intervento di soccorso, 200 #vigilidelfuoco impegnati nelle operazioni pic.twitter.com/cOKLlRAnSK
— Vigili del Fuoco (@emergenzavvf) 14. August 2018
Immer wieder gibt es verheerende Überschwemmungen in und um Genua
Genua und Ligurien waren in den vergangenen Jahren Schauplatz verheerender Überschwemmungen, die der Natur angelastet werden, aber durch Klimawandel und Bauwut auch menschengemacht sind. Ähnlich ist es bei den häufigen Erdbeben im Land. Man schlägt erst die Hände über dem Kopf zusammen, dann werden regelmäßig die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und baulichen Versäumnisse aufgelistet. Vor sechs Jahren steuerte Kapitän Francesco Schettino ein Kreuzfahrtschiff gegen die Felsen der Insel Giglio, auch das war sinnbildlich.
Die Hauptstadt Rom versinkt seit Jahren im Müll, Neapel erstickt in brutaler Kriminalität, seit einiger Zeit müssen Migranten als Sündenböcke der in Wahrheit extrem über sich selbst frustrierten Italiener herhalten. In Rom gehen wöchentlich Busse in Flammen auf. Es gibt eine Autobahnbrücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleistet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzgefährdet. Und doch ist dieses reiche Land eines der beliebtesten Ferienziele überhaupt, besticht immer noch durch Schönheit, Leichtigkeit, Kunst, Genie und Anmut. Es ist das italienische Paradox. Im Land Michelangelos und Leonardo da Vincis brechen die Brücken, Sinnbilder großer Ingenieurskunst, in sich zusammen.
Von 100 Einwohnern haben in Italien 60 ein Auto
Viele von ihnen sind völlig überlastet. In den vergangenen Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Wenige Menschen starben, deshalb gab es kaum Schlagzeilen. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Natürlich ist die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt dem enormen Verkehrsaufkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt. Italien ist mit seinen 60 Pkw pro 100 Einwohner ein Extrem.
5000 Lastwagen sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal so viel wie vor 30 Jahren. Allein seit Jahresbeginn hat der Verkehr auf der betroffenen Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Empfindlichkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen. Dabei bleibt die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten. Die Anstrengungen der Straßenbaubehörde Anas genügen ganz offensichtlich nicht. Elf Milliarden Euro will Anas zwischen 2016 und 2020 in die Instandhaltung der italienischen Autobahnen investieren, davon 350 Millionen Euro in Brücken und Tunnels. Das ist nicht genug.
Mangelnde Instandhaltung als Ursache?
Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwortlichen der Autobahngesellschaft Autostrade d'Italia stehen ganz oben auf der öffentlichen Abschussliste. Arbeitsminister und Vizepremier Luigi di Maio brachte bereits Geldstrafen für die Autobahnbetreiber-Gesellschaft in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufnahm. Verkehrsminister Andrea Toninelli behauptete am Mittwoch, mangelnde Instandhaltung sei die Ursache für die Katastrophe.
Der Staub unter der Brücke war noch nicht einmal gesackt, da wartete der zackige und von Umfragen begünstigte Innenminister Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwortlichen“, polterte er – als könne drastische Bestrafung das Leid der betroffenen Familien lindern.
Von großen Infrastruktur-Plänen ist in Italien nun die Rede, von systematischen Untersuchungen bei Brücken, Tunnels und Viadukten. Ministerpräsident Giuseppe Conte, der am Mittwoch Betroffene in Genua besuchte, schrieb auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“ Conte kündigte scharfe Kontrollen der Infrastruktur in Italien an. „Wir können uns keine weiteren Tragödien wie diese erlauben“, schrieb er. Es klang eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugung.