Doha, in diesem Herbst. Javier Martinez schleppt sich bei schwülen 35 Grad über den Platz. Noch vor der Halbzeit ist Schluss für den einstigen Weltstar. Nicht einmal 50 Zuschauer sehen, wie der spanische Welt- und Europameister, der 2020 mit dem FC Bayern München das Triple gewann, im Hamad-Bin-Khalifa-Stadion vom Platz gestellt wird. Rot, weil er sich dreht und dabei seinen Gegner mit dem Arm im Gesicht trifft.
Seit letzter Saison spielt der 34-Jährige für Qatar SC. Die unnatürliche Bewegung mit dem Arm ist seine dynamischste an diesem Abend. Das Spiel gegen Umm Salal SC geht 1:3 verloren. Auf der Haupttribüne sitzen eine Handvoll Zuschauer, überwiegend Männer, und lassen sich kalte Getränke servieren. Große Emotionen ruft die Partie nicht hervor. Der Qatari Stars Cup soll die Ersatzspieler in der Länderspielpause beschäftigen.
Katar und der Fußball, das ist eine ungewöhnliche Beziehung. 1972 wird die erste offizielle Saison der höchsten Liga im Emirat ausgetragen. Gegründet wird der Verband allerdings schon 1963, im gleichen Jahr geht in Deutschland die Bundesliga an den Start. Die Voraussetzungen und Entwicklungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Hier jede Woche Massen an Fans, die quer durch die Republik reisen, dort kleine Stadien, die dennoch nicht ausgelastet sind. Muss man Katar aber deshalb gleich die Fußball-Kultur und die Begeisterung für den Sport absprechen? Auf jedenfall wird sie hier anders gelebt als in Europa.
Im „Orient Pearl“, einem modernen Restaurant an der Corniche, der Wasserpromenade Dohas, essen Familien mit ihren Kindern. Männer oder Frauen sitzen in Gruppen zusammen, halten ein Schwätzchen, trinken Tee und rauchen Shisha. Von jedem Platz aus hat man Blick auf mindestens einen der vielen riesigen Fernseher an den Wänden.
- Teil 1 der Serie "Unterwegs in Katar" finden Sie hier
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Premiere League, Bundesliga, Champions League – rund um die Uhr zeigt BeIn Sports, der Ableger des katarischen Nachrichtensenders Al Dschasira, Bilder der europäischen Topligen. In fast jedem Restaurant, jeder Kneipe und jedem Hotel der Stadt kann man erfahren, wie Werder Bremen, Bayer Leverkusen oder Crystal Palace gespielt haben.
Kamelrennen und Falkenjagd mögen vielleicht immer noch eine große Fangemeinde haben. Auf den Bildschirmen im öffentlichen Raum hat ihnen der Fußball längst den Rang abgelaufen.
In die Stadien zieht den Katari dennoch wenig. Nicht einmal die ganz großen Namen. Deren Zeit soll im Emirat ohnehin bald vorbei sein. Altstars, die noch etwas Geld mitnehmen und neben dem Golfen ab und an gegen den Ball treten, sollen der Vergangenheit angehören.
Mario Basler machte 2003 den Anfang. Als erster Bundesliga-Star ging er in die Wüste. Stefan Effenberg und andere folgten. In Zukunft, sagt Liga-Chef Ahmed Khalil Abbasi, wolle man eher auf junge Talente setzen. Ausgebildet werden die meisten an der Aspire Academy in Doha, einem Millionenprojekt, das Katar 2004 gründete. Knapp 300 Jungs im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren haben hier einen strengen Tagesablauf.
Mädchen gibt es hier nicht. Haben viele Eltern einen Vorbehalt, ihre Töchter in die Obhut einer Akademie zu geben? Oder fehlt einfach das Angebot? Die Qatar Foundation, von der Herrscherfamilie ins Leben gerufen, zuständig im Land für Bildung, Wissenschaft und Entwicklung, hat kürzlich angekündigt, bald auch ein ähnliches Programm für Mädchen schaffen zu wollen.
Hajar fände das gut. Die 22-Jährige ist in Katar geboren und wie andere junge Frauen ihrer Generation sportlich aktiv. Im Alter von fünf Jahren hat sie mit dem Schwimmen begonnen. „Ich war viel bei Wettkämpfen im ganzen Land unterwegs“, sagt sie bei einer zufälligen Begegnung vor der Universität. Hajar studiert in Doha Medien und Kommunikation. „Irgendwann ist es mit dem Schwimmtraining, den Wettkämpfen und der Ausbildung leider zu viel geworden“, sagt sie. Sport mache sie aber regelmäßig, sagt Hajar. Andere auch. Jeden Dienstagabend, erzählt sie, treffen sich auf dem Uni-Campus Studentinnen zum Basketballspielen.
In der Aspire Academy stehen aktuell nur für Jungs Fechten, Leichtathletik, Schwimmen, Basketball, Turnen oder Tischtennis auf dem Programm. Die Sportstätten hierfür sind alle unter einem riesigen Dach vereint. Die weitläufige Außenanlage besteht aus mehreren Plätzen. Im Winter trainiert hier unter anderem der FC Bayern. Auch verletzte Sportler sind regelmäßig zu Gast. Die medizinischen Spezialisten zählen zu den Besten der Welt.
An den Wänden hängen riesige Plakate, die von den großen Erfolgen erzählen, dem Hochsprung-Olympiasieg von Mutaz Essa Barshim und dem Sieg der Fußballer beim Asien Cup 2019 – 15 Spieler des Kaders wurden in der Sportakademie ausgebildet. Daneben prangen in riesigen Lettern Sprüche, die den Nachwuchs prägen sollen. Konfuzius sagt: „Unser größter Ruhm liegt nicht immer im Fallen, sondern im Aufstehen, wann immer wir fallen.“
Wer nicht mitzieht oder die Erwartungen nicht erfüllt, wird aussortiert. Ein Team aus Scouts sichtet die künftige Elite, die wiederum auf die breite Masse wirken soll. „Aspire today, inspire tomorrow“, so der Grundsatz der Akademie. „Strebe heute, inspiriere morgen.“
Katar will sportlich werden. Muss es. „Das Land hat eine der höchsten Diabetes-Raten der Welt“, sagt Islamwissenschaftler Sebastian Sons. Kohlenhydrate und Zucker, kombiniert mit zu wenig Bewegung. Der Katari liebt sein Auto und fährt gerne von Tür zu Tür. Gehsteige, Jogging oder Fahrradstrecken gibt es kaum. Um das Gesundheitssystem, das jeder der 300.000 Kataris kostenlos in Anspruch nehmen kann, zu entlasten, hat die Herrscherfamilie die Förderung des Breitensports ausgerufen. Seit 2012 gibt es einen nationalen Sporttag.
Doch Katar geht es nicht allein darum, sein Volk zu bewegen, sich zu bewegen. Über 500 internationale Sportereignisse hat das Emirat in den letzten Jahren ausgerichtet und sich so auf die Karte der Sportgroßmächte gedrängt. Auf nicht einmal 12.000 Quadratkilometern gaben sich Weltstars die Klinke in die Hand.
Boris Becker ist einer der Ersten, der Werbung für das Emirat Katar macht
Am Anfang dieser Idee sitzt Boris Becker in kurzer Hose und mit Tennissocken in den Sandalen auf einem Kamel und schaukelt bedenklich hin und her. Der Agal, der Ring, der die Kopfbedeckung der Männer zusammenhält, hängt leicht schief auf dem Haupt. Auf dem Platz macht der Deutsche eine bessere Figur. 1993 gewinnt der 25-Jährige die Qatar Open, die erste Ausgabe des ATP-Turniers in Doha. Ganz nebenbei macht Becker noch Werbung für den Wüstenstaat für eine angeblich sechsstellige Summe. Seine Worte damals sind beinahe so unbeholfen wie der Ritt auf dem Höckertier: „Wir werden mit offenen Armen empfangen, sage ich mal. Ob das jetzt gestellt ist oder nicht, ist mir irgendwo auch egal. Es ist toll, es ist schön.“ Er sei sich sicher, dass er und andere Spieler wiederkommen würden.
Die Kosten für die Fußball-WM sind schwer zu beziffern. Laut dem Magazin „Forbes“ gehen vorsichtige Schätzungen von 150 Milliarden Dollar aus. Geld, das zu großen Teilen in die Infrastruktur floss.
Und das soll nicht das Ende sein. Katar will die Olympischen Spiele. Das Museum hierfür haben sie schon einmal gebaut – es ist, nach dem in Lausanne, das zweitgrößte Olympische Museum der Welt. Fackeln aller Spiele haben sie dort ausgestellt. 2036 soll eine aus dem eigenen Land dazukommen. Oder eben später.
Dass es Großereignisse will und kann, zeigte Katar 2015 mit der Handball-WM. Zu Beginn vor weitgehend leeren Rängen. Zur Hauptrunde wurden Hunderte Fans in die Hallen gekarrt, überwiegend Gastarbeiter dienten als Kulisse. 2019 fand die Leichtathletik-WM in Doha statt. Bei Temperaturen bei denen kein normaler Mensch daran denken würde, einen Schritt aus dem klimatisierten Gebäude zu setzen, kippten Geher und Marathonläufer reihenweise um.
Beide Ereignisse sorgten auch für Kritik. Sie prallte an Katar und an den Veranstaltern ab, auch wenn aus manchen Fehlern gelernt wurde. Bestanden bei der Handball-WM etwa Teile der Nationalmannschaft aus Söldnern, bildete man die Fußball-Nationalspieler nun selbst aus.
Trotzdem ist die WM wohl das umstrittenste Turnier aller Zeiten. Den Sport zu benutzen, um sein Image zu schönen, ist nicht immer einfach in diesen Tagen. Sportswashing ist ein bekannter Begriff und geht in der Außendarstellung auch schon mal nach hinten los, wie Katar gerade erfährt.
Doch dem Land geht es ohnehin um mehr. Als kleinstes Emirat am Golf teilt es sich mit dem Iran das größte Gasfeld der Welt. Mit Saudi-Arabien liegt es im Dauerclinch. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten rief der mächtige Nachbar 2017 die Blockade gegen Katar aus, um den Nachbarn auf Kurs zu bringen. Durch geschickte Bündnispolitik, etwa mit der Türkei und dem Iran, umging Katar die Blockade, schleuste Güter und Gelder ins Land und heraus und befreite sich aus dem Würgegriff. Das Trauma aber bleibt.
Der Sport ist Teil der Sicherheitspolitik in Katar
Der Sport ist längst zu einem Instrument der Sicherheitspolitik des Landes geworden. Wer großen Einfluss hat, hat auch starke Verbündete, die ihn im Ernstfall schützen. Längst fließt das viele Geld Katars nicht nur mehr nur in Wirtschaftsunternehmen, wie VW, Siemens oder RWE, sondern auch in Sportvereine auf der ganzen Welt. So wie in den französischen Fußball-Klub Paris Saint-Germain, den Katar seit 2011 finanziert.
Während Katar vor einem Vierteljahrhundert noch sein Dasein als kleiner karger Wüstenstaat fristete und international kaum wahrgenommen wurde, ist es auch durch sein Engagement im Sport nun im Fokus der Öffentlichkeit.
Und wer erst einmal sichtbar ist, kann nicht mehr so einfach verschwinden. Auch nicht, wenn Menschenrechtler einem immer wieder die Rote Karte zeigen.