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Kandahar
Hilfe für behinderte Menschen in Afghanistan: Wie die siebenjährige Amina mit kleinen Schritten zurück ins Leben findet
Amina hat bei einem Raketenangriff ihre Mutter und Geschwister verloren. Und ihr rechtes Bein. Das Mädchen muss in einer verzweifelten Welt lernen, aufrecht zu gehen.
Amina hat mit ihren sieben Jahren noch einmal lernen müssen, wieder stehen und gehen zu können. Durch einen Raketeneinschlag verlor sie ihre Mutter, Geschwister und ein Bein.
Foto: Till Mayer | Amina hat mit ihren sieben Jahren noch einmal lernen müssen, wieder stehen und gehen zu können. Durch einen Raketeneinschlag verlor sie ihre Mutter, Geschwister und ein Bein.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:04 Uhr

Der Weg zum Rehabilitation Center in Kandahar ist idyllisch. Nach dem ersten Tor stehen links und rechts Bäume im Spalier. Die Sonne wirft Schatten durch das Geäst. Es ist ein mildes Licht. Ein kleines Kind läuft mit seiner Mutter auf das Gebäude zu. Der ungeduldige Schritt des etwa Fünfjährigen ruckelt ein wenig, und die Frau neben ihm hält sicherheitshalber die Hand des Jungen fest in der ihren. Ein alter Mann kommt ihnen entgegen. Er ist von wuchtiger Statur und ein schlohweißer Bart umrahmt sein rundes Gesicht. Auch sein Gang ist leicht staksig.

Der Junge und der alte Mann haben während des Krieges in Afghanistan ein Bein verloren. Wie so vielen, die im Rehabilitation Center der gemeinnützigen Organisation Handicap International um Hilfe suchen. Kriegsversehrte sind dort Patientinnen und Patienten, Männer, Frauen und Kinder, denen Landminen- und Granatenexplosionen Teile ihrer Körper geraubt haben. Menschen, deren Körper davon erzählen, was über vier Jahrzehnte Krieg dem Land seit 1978 angetan haben. Aber auch Überlebende von schweren Unfällen, Diabetes-Amputierte oder Poliobetroffene sind hier in Behandlung.

Auch der Vater von Amina wurde bei dem Raketeneinschlag schwer verletzt, ein Arm ist nicht mehr voll beweglich.
Foto: Till Mayer | Auch der Vater von Amina wurde bei dem Raketeneinschlag schwer verletzt, ein Arm ist nicht mehr voll beweglich.

Gleichgewicht finden für eine Welt, die schon so lange aus den Fugen geraten ist

Im großen Übungssaal steht ein Mädchen. Amina sieht aus wie eine Erwachsene, die auf Kindergröße geschrumpft ist. Ihr Kopftuch umrahmt ein ernstes Gesicht. Die Augen erzählen unfassbar Trauriges. Auf dem weißen Boden vor ihr sind grüne und rote Fußkonturen aufgepinselt. Große Spiegel stehen an den Wänden. Davor befinden sich langgezogene Barren. Hier üben Versehrte wieder aufrecht zu stehen. Das Gleichgewicht zu finden - für eine Welt, die außerhalb des Zentrums schon so lange aus den Fugen geraten ist.

Amina hat mit ihren sieben Jahren noch einmal lernen müssen, wieder stehen und gehen zu können. Dafür übte sie mit ausgebreiteten Armen, auf nur einem Bein stehend, das Gleichgewicht zu finden. Manchmal, als es einfach nicht klappen wollte, konnte sie die Tränen nicht halten. Dann, endlich, wagte sie die ersten Schritte mit der Prothese. Ganz ohne Krücken. Ohne, dass sie jemand stützend hielt. Ihr Prothese wurde zuvor in dem Center hergestellt, ihr kleiner Beinstumpf mit Bandagen vorbereitet, damit er in das Bein aus Kunststoff passte.

Die Familie hatte keine Chance, dem Einschlag zu entkommen

Es war kein leichter Weg für Amina, wieder aufrecht zu stehen. Doch das fehlende Bein ist bei weitem nicht ihr größter Verlust. Davon erzählt Yar Mohammad im Büro des Einrichtungsleiters. Der Familienvater berichtet, wie sie im Juli vergangenen Jahres noch alle am Morgen bei einem leichten Frühstück zusammensaßen. Dann ging die Familie los, die fünf Geschwister, Mutter und Vater. Die Kinder gingen zur Schule, als das Unglück geschah. Die Taliban waren auf dem Vormarsch und lieferten sich in Kandahar mit den Regierungstruppen Gefechte. Die Rakete kam wie aus heiterem Himmel. Die Familie hatte keine Chance, dem Einschlag zu entkommen. Zwei der Geschwister starben.

In der Werkstatt des Rehabilitation Center von Handicap International wird eine Prothese für ein kleines Kind gefertigt.
Foto: Till Mayer | In der Werkstatt des Rehabilitation Center von Handicap International wird eine Prothese für ein kleines Kind gefertigt.

"Mein Frau lebte noch. Aber ihr Körper war nicht mehr in einem Stück. Sie brachten sie und ihre Körperteile ins Krankenhaus. Dort starb sie dann kurz darauf." Yar Mohammads Stimme wird immer leiser, bis sie verstummt. Sein Tochter blickt zu ihm mit erschrockenen, traurigen Augen. Ihr Vater schafft es nicht mehr, davon zu berichten, dass zwei Töchter starben. Und dass die drei Kinder, die überlebten, alle schwer verletzt waren. Er findet keine Worte mehr. Auch nicht der Dolmetscher, dem Tränen in den Augen stehen.

Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Afghanistan 468 Kinder durch Kriegsfolgen getötet. 1214 weitere verwundet oder wie Amina versehrt. Im besagten Zeitraum gab es laut den Vereinten Nationen (UN) 5183 zivile Opfer, davon 1659 Todesfälle.

Millionen Menschen sind in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen

Den Familienvater selbst trafen Splitter. Sein rechter Arm musste operiert werden. Er ist nicht mehr belastbar. Yar Mohammad verkauft heute Kaugummi mit einem kleinen Bauchladen. "Wenn es gut läuft", sagt er, dann verdiene er umgerechnet zwei Dollar. Meistens ist es nur die Hälfte. Zu wenig, um die Familie zu ernähren, die in einer kleinen Lehmkate mit nur einem Zimmer in einem Armenviertel der Stadt haust.

Der junge Fazal ist ein Kriegsversehrter. Er war als Tagelöhner auf dem Weg zu einer Plantage, als er unter Beschuss geriet.
Foto: Till Mayer | Der junge Fazal ist ein Kriegsversehrter. Er war als Tagelöhner auf dem Weg zu einer Plantage, als er unter Beschuss geriet.

Doch selbst für diese schäbige Unterkunft weiß Yar Mohammad oft nicht, wie er die Miete aufbringen soll. Ohne Hilfe von Nachbarn, Verwandten und Lebensmittelspenden von Hilfsorganisationen könnte die Familie schlicht nicht überleben. Bedürftigkeit ist keine Ausnahme in Afghanistan, eher die traurige Regel: Anfang 2002 waren laut dem humanitären Informationsportal "Reliefweb 24,4 Millionen Menschen in dem Land auf humanitäre Hilfe angewiesen, das sind 55 Prozent der Bevölkerung. Auch Amina und ihre Geschwister gehen viel zu oft hungrig ins Bett.

"Mein steifer Arm macht es mir unmöglich, eine Arbeit zu finden", erklärt Yar Mohammad. Und selbst die armselig bezahlten Tagelöhner-Jobs sind Mangelware. Seit der Machtergreifung der Taliban im vergangenen Jahr befindet sich Afghanistan wirtschaftlich im freien Fall. Das Gesundheitssystem wird weitgehend von Hilfsorganisationen getragen. Gelder der gestürzten Regierung sind eingefroren. So ist zwar die Sicherheitslage in Kandahar derzeit stabil. Die Taliban haben das Land unter Kontrolle. Doch die Armut der Menschen ist weiter angestiegen. Eine Zukunft in Würde haben Yar Mohammad und seine Kinder bis heute nicht in Aussicht.

In der Werkstatt werden auch Prothesen für kleine Kinder angefertigt

Er ist dennoch dankbar. "Da war ein Mann, der hatte einfach Geld hinterlegt, damit meine Amina in Pakistan operiert werden konnte. Möge Gott ihn immer beschützen. Und dann bekam meine Tochter von Handicap International das Geschenk, wieder laufen zu können", meint der Familienvater zum Abschied. Dann geht er mit seiner kleinen Amina hinaus in das milde Sonnenlicht.

In der Werkstatt überzieht derweil ein Mitarbeiter einen kleinen Fuss aus Gips mit einer Kunststoffschicht. Die nächste Kinderprothese wird angefertigt.

Über den Autor

Die Langzeitfolgen von Kriegen und Konflikten stehen im Fokus der Arbeit von (Foto-) Journalist Till Mayer. Dabei arbeitet er auch mit Hilfsorganisationen zusammen. Afghanistan besuchte er auf Einladung von Handicap International.
Quelle: tm
 
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