Ob es Gianni Infantino wohl schmeckt, dass er dieses Mal ganz offenbar nicht an erster Stelle steht?
In jeder Arena dieser Weltmeisterschaft wird für den Präsidenten des Fußball-Weltverbandes eine Lounge bereitgestellt. Nicht, weil Katar so gastfreundlich ist. Es ist eine Vorgabe der Fifa an den Ausrichter des Turniers.
Im Stadion 974, mitten in Doha, ist dieser Raum in einem roten Container untergebracht. Ein Plastiktisch steht darin, ein Mülleimer, ein Sideboard, eine kleine Sitzgruppe und eine Glasablage mit einem Buch, das den Titel „Qatari Costume“ trägt. Vor und nach den Spielen kann sich der Schweizer hier über die Landestracht des WM-Gastgebers informieren. Eine eigene Toilette hat Infantino auch. Jeder, der schon einmal im Dortmunder Signal-Iduna- Park vor der Südtribüne in einer Schlange stand, erkennt den Wert sofort.
Die Ausstattung ist eher spartanisch. Fenster? Gibt es nicht. Ist vielleicht auch besser so. Der Blick würde über Beton schweifen. Die Lounge des mächtigsten Mannes im Fußball ist zum Parkplatz gelegen. Der mächtigste Mann des Landes dagegen blickt aus seinem Bereich ins Stadion. Die Hierarchie ist klar. Die Tür der Toilette öffnet sich auf Knopfdruck. An der Wand der Lounge hängt ein riesiger Fernseher. Auch wenn der Emir sicher Edleres gewohnt ist – so hat er immerhin eine breite Glasfront mit Balkon zum Geschehen.
In der VIP-Lounge des Stadions einen Stock tiefer sitzt Talar Sahsuvaroglu an einem schwülen Tag im katarischen Herbst auf einem der Sessel und gerät ins Schwitzen. Im Organisationskomitee der WM ist sie mitverantwortlich für das Thema Nachhaltigkeit. Sie ist eine wortgewandte Frau. Charmant, klar und rhetorisch schwer geschult. Doch auf manche Fragen kennt auch sie keine Antwort. Etwa auf die, was mit den acht Stadien, von denen sieben neu gebaut wurden, nach der WM passieren wird. „Das kann ich jetzt nicht sagen“, sagt Sahsuvaroglu. Wann dann? Kann jemand Auskunft über einen Zeitplan geben? „Ich weiß nicht, wer die Person sein könnte“, antwortet sie. Irgendwann findet sie ihr Lächeln wieder und sagt. „Wir sind hier in Katar, für alles wird es erst noch ein Gutachten geben.“
Zwölf Jahre waren offenbar nicht genug. Dabei war es Teil des Bewerbungskonzeptes, die Stadien um-, zurück- oder sogar ganz ab- und an anderer Stelle wieder aufzubauen. Vor allem das 974. Hip sieht es ja aus, wie es da so steht, am Wasser mit seiner einzigartigen Konstruktion und seinen bunten Schiffscontainern. 974 sind es genau. Sie geben der Arena den Namen. Zufall ist die Zahl nicht. Sie ist auch die Telefonvorwahl des kleinen Emirats. Sechs Gruppenspiele und ein Achtelfinale finden im Stadion 974 statt. Selbst die Kabinen bestehen aus Containerteilen.
Nach dem Turnier kann das Stadion recycelt werden. Ein Plan wäre es, die Arena in ein Entwicklungsland zu verschiffen. Katar würde wohl sogar den Transport dafür übernehmen. Doch ob das Geschenk irgendwo willkommen ist? Die Betriebskosten müsste der „Beschenkte“ selbst tragen – und die sind gigantisch. Vom Einfluss eines derartigen Transportes auf die Ökobilanz des Stadions mal abgesehen.
Und dann wäre da noch die Frage: Welches Entwicklungsland benötigt solch eine moderne Arena? Oder Teile davon. Denn das Stadion kann komplett zerlegt werden. Auch bei den anderen WM-Arenen gäbe es die Möglichkeit, die Oberränge abzunehmen. Doch schon jetzt füllen die Zuschauer der nationalen Qatar Stars League nicht einmal die viel kleineren Stadien.
Vielleicht werde ein Teil der Stadien umfunktioniert, heißt es – in Einkaufszentren oder Hotels. Das ist laut Fifa auch der Plan für das Lusail. In der Arena, die 80.000 Zuschauende fasst und deren mondäne Fassade im arabischen Stil funkelt, werden neben dem Finale neun weitere Spiele ausgetragen. Auf der Webseite der Fifa ist von Plänen die Rede, den Innenraum so umzugestalten, dass dort „eine Mischung aus städtischen Einrichtungen untergebracht werden kann“. Wohnungen, Geschäfte, eine Schule. Die ausgebauten Materialien würden „gelagert und wenn möglich wiederverwendet oder gespendet“, heißt es dort. Klingt gut. Und was macht man mit all den Plastiksitzen? Wieder zuckt Sahsuvaroglu mit den Schultern und verweist auf später. Weil es noch keine echten Pläne gibt? Weil man doch ganz anders plant. Nach der WM soll schließlich, geht es nach Katar, vor Olympia sein.
So oder so, ein Hauptproblem bleibt: Was ist mit dem enormen energetischen Aufwand, den es braucht, um derartige Komplexe zu betreiben? Es ist mit ein Grund, weshalb viele Stadien in Ländern wie Südafrika oder Brasilien verfallen. Zumindest das droht in Katar wohl nicht.
Doch bei der Bewerbung 2010 war das Emirat auch mit dem Versprechen angetreten, die erste klimaneutrale WM auszurichten. Die Rede war etwa von einem System, das durch Verdunstung kühlt. Mittlerweile ist es selbst verdunstet. Immerhin: Durch die Verlegung der WM vom Sommer in den Winter wird weniger Energie gebraucht, um die Stadien zu kühlen. Statt 40, 50 Grad im Juli und August, liegen die Temperaturen nun bei 26 bis 28 Grad. 22 Grad sollen in den Stadien herrschen. Die Klimaanlagen müssen deutlich weniger arbeiten. Auch wenn man sich in Katar um Energiekosten ohnehin keinen Kopf macht.
Vor den Einkaufsläden parken die Autos oft mit laufendem Motor. Im Überwachungsstaat ist jeder Winkel mit einer Kamera erfasst. Wer keine Sorge vor Dieben haben muss, kann schon mal den Schlüssel stecken lassen, um nach dem Shoppen direkt ins kühle Auto zu steigen. Auf den Außenplätzen der Restaurants im Suq Waqif, dem Markt Dohas, stehen mobile Kühlgeräte an vielen der Tische. Im Stadion 974 gibt es keine Klimaanlage – zumindest im Innenraum, da die Arena „für eine natürliche Belüftung ausgelegt ist“, wie es die Fifa auf ihrer Website beschreibt. So ganz scheint sie nicht auszureichen, um vor dem Turnier den Rasen frisch zu halten. Riesige Ventilatoren stehen am Rand und erzeugen jede Menge Wind.
Das Stadion bekam vor einiger Zeit dennoch einen Preis für seine Nachhaltigkeit – verliehen von einem Programm namens „Global Sustainability Assessment System“. Auch für das Lusail gab es eine Fünf-Sterne-Bewertung. „Ein großer Meilenstein für Katar“ lobte der Verantwortliche für die Nachhaltigkeit der Fifa, Federico Addiechi, und freute sich. Sieht ja auch gut aus – wie vieles im Emirat. Bis man hinter die Kulisse schaut: ein Preis verliehen von einem Programm, das in Katar für den Mittleren Osten und Nordafrika entwickelt wurde. Auch ein Kompensationsprogramm, das einen Teil des Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid (CO2) auffangen soll, hat das staatlich finanzierte Institut gegründet. Von Greenwashing ist die Rede. Es ist heutzutage eine gängige Art, sich freizukaufen von seinen Umweltsünden.
Die CO2-Emissionen, die im Zuge der WM entstehen sollen, schätzen Experten auf 3,6 Millionen Tonnen – mehr als bei allen Weltmeisterschaften zuvor. In Russland soll die Zahl bei 2,1 Millionen Tonnen gelegen haben. Dabei waren die Reisewege dort deutlich weiter. Denn auch wenn diesmal einige Fans sogar in anderen Ländern wohnen, die Strecken sind kurz.
Um den CO2-Fußabruck zu verkleinern, wird fleißig gepflanzt. Im Report für Nachhaltigkeit der Fifa ist die Rede von 500.000 Quadratmeter Rasen, die bis Anfang 2020 im Land verlegt worden sein sollen. Dazu kommen 80.000 Sträucher und 5000 Bäume. Ganz Doha ist grün. Und selbst mitten in der Wüste ist ein riesiger grüner Fleck zu sehen. Hier zieht Katar Sträucher und Bäume heran. Abgeschirmt durch eine Mauer. Vor der Baumschule erzeugt ein Stacheldrahtzaun einen bedrohlichen Eindruck.
Wasser wird in Katar mit energieaufwendigen Entsalzungsanlagen gewonnen
Wer die steinige, staubige Gegend sieht, ahnt, dass Grünpflanzen hier im Normalfall wenig Chance hätten, sich zu entwickeln. Um die Pflanzen großzuziehen und am Leben zu halten werden Wassermassen benötigt. Gewonnen werden sie in riesigen Entsalzungsanlagen. Der Prozess ist energieintensiv. Er frisst Unmengen an Öl und Gas. Beides hat Katar im Überfluss.
Gibt es denn noch etwas wirklich Nachhaltiges an diesem Turnier, das doch genau mit diesem Thema warb? Sahsuvaroglu spricht davon, Abfall zu reduzieren und Müll zu trennen. Und hier gerät sie regelrecht ins Plaudern. Es könnte den Umgang eines Landes, in dem Wasser in kleinen Wegwerfflaschen und Kaffee aus Styroporbechern zum Mitnehmen kredenzt wird, mit dem Thema möglicherweise tatsächlich verändern. Ebenso wie die Metro, die gebaut wurde, um zur WM die Stadien zu verbinden und später im Alltag auch die Straßen zu entlasten, falls die Bewohner Katars denn auf ihr geliebtes Auto verzichten.
Die Wege zwischen den Stadien in Katar mögen die kürzesten sein, die es je bei einer WM gab. Der Weg zu einem echten Bewusstsein für den Klimaschutz aber ist noch lang.