
Die Briefkästen im Erdgeschoss des Wohnblocks in Butscha bleiben unerreichbar. Zwei Klebebänder reichen von einer Wand mit aufgemalten Efeu-Ornamenten zu einer anderen. Zwischen ihnen hängt ein unscheinbares Stück Papier. Helle, blaue Buchstaben stehen handgeschrieben darauf: "Vorsicht Sprengsätze".
Doch die Treppe nach oben ist frei. Der Ukrainer Oles nimmt die glatten Betonstufen im schnellen Schritt bis zum dritten Stock. Er hat einen besonderen Auftrag. Und ist darum aufgeregt. "Die Wohnungstür ist unversehrt und verschlossen. Scheint alles sicher zu sein", ruft er erleichtert, als er die Schlüssel probiert, die ihm seine Eltern mitgegeben haben. Dann findet er den richtigen, dreht ihn im Schloss. Er zieht die schwere braune Tür ruckartig auf und springt mit einem mächtigen Satz zur Seite. Sicherheitshalber. Aber eigentlich weiß er, dass ihn der Sprung wohl kaum retten würde, wenn hinter der Türe eine Sprengfalle platziert gewesen wäre.
Es bleibt still, nichts passiert. Oles inspiziert die Wohnung. "Kein Strom mehr", sagt er, als er den Gefrierschrank öffnet. Die Lebensmittel darin sind aufgetaut und verfaulen. Der 38-Jährige packt sie in eine Plastiktüte. Es tropft aus den Beuteln, auf dem Boden bildet sich eine übel riechende bräunliche Lache. "Wenn das alles an Schaden ist, dann haben wir unfassbar viel Glück gehabt", meint er.

Danach gießt er die Pflanzen. Sie hatten kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar zum letzten Mal Wasser bekommen. Oles aber ist Optimist. "Wer weiß, vielleicht werden sie ja wieder", sagt er – und blickt auf die Orchideen auf dem Fensterbrett, die verschrumpelte Blütenköpfe hängen lassen.
Oles nimmt sein Smartphone in die Hand und tippt – und einige hundert Kilometer entfernt – in Kremenez in der Westukraine – klingelt es bei seinem Vater Bohdan. Oles hat die Kamera eingeschaltet. Der halbe Kopf samt Brille des Vaters erscheint auf seinem Smartphone. "Ich bin in der Wohnung", ruft Oles. "Jetzt schon in Butscha?", antwortet der Vater mit schneller Stimme. Und nun ist auch Lidiia, Bohdans Frau, zu sehen.
Nach einem Monat in bayerischer Sicherheit wollten die Eltern zurück
Oles Eltern sind zu diesem Zeitpunkt erst einen Tag zuvor aus dem oberfränkischen Lichtenfels wieder in die Ukraine gekommen. Nach gut einem Monat in bayerischer Sicherheit wollten sie zurück. "Das ist einfach unsere Heimat. In Deutschland konnten wir nichts tun", sagt Lidiia. "Aber in der Ukraine hat mein Mann eine kleine Firma, die muss weiterlaufen. So friedlich Lichtenfels ist, wir hätten den Krieg in der Ukraine dort nie vergessen können."
Das Videotelefonat mit dem Sohn, der die Wohnung der Eltern in Butscha weiter untersucht, geht weiter. "Die Nachbarn hatten recht, nichts ist geplündert", erklärt Oles, und schwenkt zur Bestätigung mit der Smartphone-Kamera durch die Zimmer. Seine Eltern sind glücklich. So glücklich, dass Oles gleich die ersten Instruktionen bekommt, welche Sommersachen er aus dem Schrank mitnehmen soll. Der Rock da rechts oben und die helle Jacke. Der Vater dirigiert ihn auch noch einmal in das Arbeitszimmer, um bestimmte Papiere zu holen.
Oles Eltern in Kremenez sind aufgewühlt, das hört man an ihren Stimmen. Bohdan stammt aus Kremenez. Dort hatte das Ehepaar zunächst auch Zuflucht gesucht. Doch der Gesundheitszustand des 71-Jährigen verschlechterte sich: Er leidet an schwerer Arthrose. Nach der Flucht aus dem damals bereits von russischen Truppen besetzten Butscha verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide.
Dass das Ehepaar dann nach Lichtenfels kam, ist einem Zufall geschuldet. Der Autor dieses Artikels, er ist zugleich ein Freund und Kollege von Oles, war gerade auf dem Weg von einem Berichterstattereinsatz in der Ukraine zurück in seine oberfränkische Heimat – und nahm das ältere Ehepaar einfach mit nach Lichtenfels. Dort nahm eine Familie sie auf. Diese will nicht allzu viel über sich in der Zeitung lesen. So lautet ihre bescheidene Bitte. Bohdan bekam im Lichtenfelser Klinikum Medikamente verschrieben. Es ging ihm bald besser, Schritt für Schritt.
"Sabine und Klaus sind so herzliche Menschen. Wir hatten eine schöne kleine und moderne Wohnung. Und vor allem Gastgeber, die uns von ganzem Herzen willkommen geheißen haben. Das war wirklich eine so gute Erfahrung für uns", sagt Lidiia. Sie schwärmt von der Natur rund um Lichtenfels, vom nahen Vierzehnheiligen und Bamberg sowie einem Ausflug nach München.

Aber als der Kollege ihres Sohnes erneut zum Berichten in die Ukraine aufbricht, sitzt er wieder am Steuer eines betagten weißen Golf-Kombis mit allerlei Beulen und ukrainischem Nummernschild. Und Lidiia und Bohdan sind auch wieder dabei.
"Wir wollen keine Bürde sein", sagt Lidiia. "Es gibt Menschen aus dem Osten der Ukraine, die mehr Hilfe benötigen." Ihre deutschen Gastgeber wären aber froh gewesen, wenn das Paar geblieben wäre.
Als die Russen Butscha besetzten, war nichts sicher
Sieht man aus dem Küchenfenster der Wohnung von Lidiia und Bohdan in Butscha, ist der Flughafen von Hostomel nicht weit. Er geriet weltweit wegen der heftigen Kämpfe in die Schlagzeilen. Bohdan blickte am 24. Februar – dem Tag des Kriegsbeginns – aus dem Fenster, als russische Hubschrauber im Tiefflug über das Hausdach dröhnten, sah, wie einer von ihnen in Flammen aufging. "Das war alles so unwirklich. Wir haben in den folgenden Tagen viele Raketen- und Granateneinschläge gehört. Krachend, dass alles gewackelt hat. Normalerweise sollen Katzen ja angeblich bei solchen Situationen ruhig bleiben und wenig Angst haben. Aber einmal gab es einen so lauten Einschlag, dass unser George minutenlang wie eingefroren war", erzählt die 67-jährige Lidiia über ihren rothaarigen Kater. "Er hat sich einfach nicht mehr bewegt."
Die beiden entschlossen sich, mit George zu Verwandten im Zentrum von Butscha zu fliehen. "Dort schien es uns sicherer zu sein. Aber als die Russen Butscha besetzten, war nichts, aber auch gar nichts sicher. Es war furchtbar. Dauernd hörten wir Schüsse und Kriegslärm, furchtbare Einschläge. Ich hatte unfassbare Angst, dass sie uns gefangen nehmen", berichtet Lidiia weiter. "Ein Bekannter hat uns am Telefon erzählt, dass sie seinen Jungen erschossen haben, nur weil er eine Bierflasche in der Hand hielt. Vermutlich dachten die russischen Besatzer, das wäre ein Molotowcocktail, und drückten ab. Wir haben das Haus deshalb nicht verlassen."
In der ganzen Ukraine kann der Tod aus der Luft kommen
Am 11. März tun sie es doch. Sie können mit ihrem weißen Golf Butscha über einen humanitären Korridor verlassen. "Bohdan und ich fürchteten, dass die Russen uns beschießen. Nichts ist passiert. Aber wir passierten ein Auto, das war mit Schüssen durchsiebt. Keiner darin konnte überlebt haben. Es war schrecklich. Aber so kamen wir aus Butscha zuerst nach Kiew, dann nach Kremenez und am 26. März nach Lichtenfels." Es ist der Abend ihrer Rückkehr aus Deutschland, an dem sie das alles erzählt.
Am nächsten Morgen wird das Paar aber von Alarmsirenen in Kremenez geweckt. Selbst in dem kleinen Städtchen gab es schon einen Raketeneinschlag. In der ganzen Ukraine kann der Tod aus der Luft kommen. Die Angst vor Krieg und Tod ist in jeder Ecke des Landes angekommen.

In Butscha hat ihr Sohn Oles die Wohnung nun wieder sorgfältig verschlossen, die vergammelten Lebensmittel in einen Container geworfen. Butscha ist in einer beklemmenden Stille versunken. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Straßen wie leer gefegt. Manche Einwohner kommen nun aus dem nahen Kiew, um nach dem Rechten zu sehen, und verlassen Butscha wieder bis zum Abend. "Es wird noch dauern, bis meine Eltern zurückkehren können. Im Haus gibt es keinen Strom und kein Wasser. Das Erdgeschoss muss noch von Spezialisten gesichert werden. Die Räumdienste haben alle Hände voll zu tun", erklärt der 38-Jährige. Auf einer Homepage kann man sein Haus zur Sicherung anmelden. "Es wird zur Geduld geraten. Nach offiziellen Angaben kann es ein ganzes Jahr dauern, bis alles geräumt ist", sagt der 38-Jährige.
In Irpin werden auf dem Friedhof schon wieder Gruben ausgehoben
Mit dem weißen Golf seiner Eltern steuert er durch Butscha Richtung Hauptstadt. Vorbei an Checkpoints und Hochhäusern, aus denen Raketeneinschläge Teile herausgerissen haben. An den Straßen ragen rußgeschwärzte Fassaden mit ausgebrannten Wohnungen dahinter auf. Butscha und das angrenzende Irpin sind Vororte, in denen sich eine aufstrebende Mittelschicht ihren Traum vom Eigenheim wahr gemacht hat. Moderne Hochhäuser reihen sich aneinander. Es gibt viel Grün und zudem schmucke Einfamilienhäuser. Viele Gebäude sind nun zerstört.
"Meine Eltern haben ihr Leben lang hart für ihre Eigentumswohnung gespart. In meiner Kindheit hat die ganze Familie in einer 35-Quadratmeter-Wohnung gelebt. Sie haben es sich wirklich verdient. Wie all die anderen, denen der russische Angriff so viel genommen hat", erklärt Oles. Mit Geschick steuert er den Wagen über eine Brücke, in die ein Einschlag ein Loch gerissen hat.
Dann rollt der Wagen schon durch das angrenzende Irpin. Kurz vor der Brücke nach Kiew ist ein Friedhof zu finden. Links vom Eingang türmen sich ausgebrannte Autowracks auf. Auf dem Friedhof dahinter finden jene eine Ruhestätte, die von russischen Besatzern ermordet wurden. Leichname werden bestattet, die bereits aus Massengräbern geborgen und identifiziert wurden. In den sandigen Boden werden weitere Gruben ausgehoben, dahinter ziehen sich die Reihen der frischen Gräber. Fotos der Toten sind an den Kreuzen angebracht. Es sind viele neue Bilder, zu viele. Der Wind bringt die Folien der Blumengestecke zum Rascheln. Es ist ein grausamer Ort.
Laut offiziellen ukrainischen Angaben überlebten 1084 Zivilisten in der Region Kyjiw die Besatzung durch russische Truppen nicht. Rund 400 wurden in Butscha ermordet, 300 in Irpin. Oles nimmt seine Kamera, um die Gräber zu dokumentieren. Oles kämpft kurz mit den Tränen, als er die Grabreihen sieht. "Das ist ein Schock für mich. Dort könnten meine Eltern liegen. 150 Meter Luftlinie von dem Haus der Verwandten in Butscha wurde eines der Massengräber gefunden. Ich hätte viel darum gegeben, dass meine Eltern noch in Deutschland geblieben wären", sagt er leise.