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Krieg in der Ukraine: Svitlana und die tiefen Risse in der Verwandtschaft
Ein ukrainisches Dorf wie Meschyritsch ist ein Albtraum für Putins Großmannssucht. Die in Russland geborene Svitlana hat dort eine Heimat gefunden. Und eine andere verloren.
Das Kloster von Meschyritsch ist für Svitlana ein Ort, der fest zu ihrer Heimat zählt.
Foto: Till Mayer | Das Kloster von Meschyritsch ist für Svitlana ein Ort, der fest zu ihrer Heimat zählt.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:23 Uhr

Was für eine Idylle. Drei Kühe weiden gemächlich auf der Wiese vor dem Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit in Meschyritsch, einem Dorf in der Westkraine. Das schwarz-weiße Fleckvieh davor interessiert sich naturgemäß weniger für den imposanten Bau aus der Renaissance. Es kaut gemächlich das Gras vor der sakralen Anlage. 

"Sie gehören dem Kloster, deswegen nennen wir sie die Heiligen Kühe", lacht Svitlana. Sie kommt gerade auf der schmalen Dorfstraße gelaufen. Die ist hier kaum breiter als ein Fahrradweg. Hinter ihr sind die Überreste des Tors aus dem 16. Jahrhundert zu sehen. Grobgehauene Steine und Felsstücke türmen sich zu einem Gewölbedach auf. Die malerische Ruine wirkt wie ein Motiv auf einem alten Stich. Rechts von ihr ragt noch ein mächtiger Ofen in den Himmel. Er ist alles, was vom Palast des Fürsten Johann von Ostrogski übrig ist: ein Dach, getragen von Säulen, gekrönt von einem hohen Schlot. Links sieht man den noch immer gut erhaltenen Erdwall, der einst das ganze Dorf umschloss. Unter dem mächtigen Adelsgeschlecht der Ostrogskis erhielt Meschyritsch sogar das Stadtrecht.

"Kommen Sie", sagt Svitlana und führt zur Klosterkirche. Svitlana trägt ein Tuch auf dem Kopf, wie es sich für eine Frau ziemt, die eine orthodoxe Kirche betritt. Im Dämmerlicht leuchtet der Innenraum des Gotteshauses golden. "Schön, nicht?", flüstert die 60-Jährige und lächelt stolz dabei.

Meschyritsch bietet Landidylle pur. Manchmal scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.
Foto: Till Mayer | Meschyritsch bietet Landidylle pur. Manchmal scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Meschyritsch in Wolhynien ist ein Dorf, wie Putin es wohl hasst. Die Menschen hier sind stolz auf ihre Tradition und ihr Land. Mag ein russischer Diktator behaupten, die Ukrainerinnen und Ukrainer bilden keine Nation, hier in Meschyritsch wird man schnell eines Besseren belehrt. "Wir sind eine Nation, das ist doch schon einmal völlig klar", sagt Svitlana kopfschüttelnd, als sie weiter durch das Dorf führt.

Svitlana ist eigentlich gebürtige Russin. Ihren Mann Rostyslav lernte sie als Junglehrerin kennen. Anfang der 1980-er Jahre war das, zu Sowjetzeiten, bei einem Camp der Jungen Pioniere. Beide arbeiteten dort im Betreuer-Team.

Svitlana zog bereits in ihrer Jugend aus Russland ins ukrainische Horliwka. Die Stadt im Donbas schrieb nach 2014 traurige Geschichte. Der Krieg brachte viele Kämpfe, die Separatisten konnten sie schließlich mit russischer Unterstützung unter Kontrolle bringen. Svitlanas Schwester flüchtete damals nach Frankreich.

"Als ich in Horliwka Anfang der 1980-er Jahre studierte, habe ich die Vielfalt der ukrainischen Kultur erstmals von anderen Studierenden kennen und lieben gelernt. Ein Mädchen sang so wunderschön auf Ukrainisch, das hat mich sehr beeindruckt. Ich wollte mehr erfahren", sagt Svitlana. Für sie war es der Beginn, sich mit der Kultur ihrer neuen Heimat auseinanderzusetzen. In Horliwka dominierte zu Sowjetzeiten völlig die russische Sprache. Ukrainische Kultur galt den Behörden dort nicht unbedingt als etwas, das es zu fördern galt.

Svitlana und ihr Mann Rostyslav im Wohnzimmer. Beide lieben ihr Meschyritsch.
Foto: Till Mayer | Svitlana und ihr Mann Rostyslav im Wohnzimmer. Beide lieben ihr Meschyritsch.

Dann heiratete sie ihren Rostyslav, zog in sein Heimatdorf nach Meschyritsch in eine völlig andere, ländliche Welt. In der benachbarten Kleinstadt Ostroh musste sie plötzlich ausschließlich in Ukrainisch unterrichten. "Das war schon eine ganz schöne Herausforderung für mich. Aber die Menschen haben mich herzlich und offen aufgenommen. So hat es geklappt", erzählt sie.

Svitlana hat in Meschyritsch längst ihre neue Heimat gefunden. Doch in Russland lebt weiterhin ein Teil ihrer Familie. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas brachten ab 2014 schon die ersten tiefen Risse. "Jetzt haben wir den großen Krieg seit dem 24. Februar. Was für eine Katastrophe", sagt sie. Einen Monat, bevor der russische Angriff begann, war sie noch einmal in der alten Heimat zu Besuch. "Mein Mann bat mich am Telefon, schnell zurückzukommen. Er hätte mich am liebsten gar nicht gehen lassen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland uns wirklich angreift. In der alten Heimat waren alle nett und höflich. Eine drohende Invasion, das kam mir völlig unwirklich vor", sagt sie.

Die Reaktionen ihrer Familie in Russland sind ein Schlag ins Gesicht

Svitlana steht jetzt auf Höhe einer Kreuzung in der Mitte von Meschyritsch. Gegenüber zwei Dorfläden und die Post. "Es wird für mich nie mehr so sein wie in diesem Januar." Als im Februar Russland die Ukraine mit Krieg überzieht, Raketen in Städten einschlagen und Putins Panzer in das Land rollen, schreibt Svitlana alte Studienfreunde online an, die in den Kampfgebieten leben. "Kommt zu uns, hier im Westen seid ihr sicher", sagt sie. Viele taten es ihr gleich. So leben noch heute zahlreiche Vertriebene in dem 1000-Einwohner-Dorf Meschyritsch. Svitlana und ihr Mann haben ein Ehepaar aus dem Charkiwer Raum aufgenommen, dessen Haus völlig durch russischen Beschuss zerstört wurde.

Die Reaktionen ihrer Familie aus Russland auf den Krieg waren für Svitlana wie ein Schlag ins Gesicht. "Mein Bruder sprach davon, dass die Zerstörungen, die vielen toten Zivilisten alles Lüge seien. Plötzlich war die Ukraine ein Nazi-Land. Mein Gott, sie kennen die Ukraine doch. Sie wissen, dass das nicht wahr ist." Die ersten Menschen, die die Lehrerin persönlich kennt, kommen ums Leben. Doch ihre Familie in Russland hält weiter unbeirrt Putin die Treue. "Sich anhören zu müssen, dass ich lüge, während russische Truppen Tausende Menschen töten, es war unerträglich für mich. Früher konnte ich noch das Thema wechseln. Jetzt wollte ich das nicht mehr. Es viel zu viel passiert", sagt die 60-Jährige. Seitdem gibt es kaum noch  Anrufe.

Vermutlich sind es hunderttausende, wenn nicht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die eine ähnliche bittere Erfahrung wie Svitlana gemacht haben. Verwandte in Russland leugnen selbst dann noch russischen Beschuss von Zivilisten, wenn ihnen in den sozialen Medien ein Bild von der Zerstörung geschickt wird. "Ich habe das so oft von Bekannten gehört. Ich frage mich, wie es das geben kann, den verlogenen russischen Staatsmedien mehr zu trauen als seinen eigenen Verwandten. Menschen, mit denen man aufgewachsen ist. Es ist furchtbar. Doch jetzt, mit der Teilmobilmachung, werden sie in Russland merken, wie schrecklich Angst vor dem Krieg ist, wenn sie um eigene Angehörige fürchten müssen", sagt Svitlana. Es ist nichts, was ihr Freude bereitet. Ihr Neffe ist auch Reservist. Wie furchtbar wäre es, wenn er auf Menschen in der Ukraine schießen würde.

Drei Freundinnen unter sich: Svitlana (li.) mit Tatjana und Sophia (re.). Das Freiwilligen-Trio packt ordentlich an, wenn es um ihre Ukraine geht.
Foto: Till Mayer | Drei Freundinnen unter sich: Svitlana (li.) mit Tatjana und Sophia (re.). Das Freiwilligen-Trio packt ordentlich an, wenn es um ihre Ukraine geht.

Svitlana führt nun zum nahen Kulturhaus. Dort wartet Sophia in ihrem Büro mit einer Ukraine-Fahne an der Wand – und einer Fototapete. Die Dorfmedizinerin Tatjana kommt mit selbst gebackenen Kuchen durch die Türe. Bald duften Tee, Kaffee und Gebäck. Die drei Frauen erzählen von der ersten Phase nach dem Beginn der Invasion: "Jeder hat alles gegeben. Alle spendeten Geld für die Ausrüstung der Armee. Die Bauern brachten Obst und Gemüse, wir haben für die Armee in der Schule gekocht und eingeweckt und Tarnnetze geflochten. Freiwillige haben die Lebensmittel dann bis zu den Soldaten gebracht. Noch bis zum Schulbeginn im September ging das so, dann waren endlich wieder die Kinder im Schulhaus zurück. So viele Geflüchtete konnten wir bei uns aufnehmen. Alle haben miteinander geteilt. Das hat viel Mut gegeben."

Der Zusammenhalt im Dorf ist groß

Gekocht wird jetzt von Freiwilligen in Ostroh, der nahen Nachbarstadt. Dort werden auch weiter Tarnnetze geflochten. Die Menschen aus Meschyritsch spenden und helfen weiter. "Der Krieg ist leider nicht vorbei. Ganz im Gegenteil – und viele Männer aus unserem Dorf sind an der Front", berichten die Frauen. Auch einen Gefallenen gibt es zu beklagen und Verwundete. In acht Kilometern Entfernung liegt ein Atomkraftwerk. Keiner mag sich ausmalen, was passiert, wenn dort eine verirrte Rakete einschlägt. Oder ein gezielter Beschuss erfolgt: Putin traut man im Dorf so ziemlich alles zu.

Aber, da sind sich die drei Frauen einig, wenn der Frieden kommt, wird die Ukraine stark sein wie nie zuvor: "Wenn wir uns dieses Zusammengehörigkeitsgefühl bewahren können, was dann alles an Gutem möglich ist", sagt Tatjana.

Dann drängt Svitlana zum Aufbruch, sie will noch ihren Arbeitsplatz zeigen. Die 60-Jährige lehrt Französisch an der Akademie von Ostroh, die schon 1576 gegründet wurde. "Das ist eine korruptionsfreie Universität", sagt die Dozentin stolz, als sie durch den Haupttrakt der sanierten und altehrwürdigen Akademie führt. Das Geschlecht der Ostrogskis hatte die Hochschule aufgebaut. Gelehrte aus ganz Europa kamen damals nach Ostroh. Die heutige Kleinstadt war ein kulturelles Zentrum.

Meschyritsch in der Westukraine.
Foto: Till Mayer | Meschyritsch in der Westukraine.

Rektor Ihor Pasichnyk empfängt und erzählt voller Stolz von der Geschichte der Hochschule. Von der Wiederauferstehung im Jahr 1994, als in den Ruinen wieder Leben einzog. Davon, wie man jetzt im Krieg besteht. "Einer unserer Professoren gibt Online-Unterricht direkt von der Front", berichtet er. 

Auf seine Studenten ist er stolz. "Sie haben viel organisiert, um der Armee zu helfen. Für den Kauf von schusssicheren Westen und Geländeautos, Drohnen haben sie erfolgreich Geld gesammelt und sammeln natürlich immer noch. Sie haben Tarnnetze geflochten, mit angepackt, wo Hilfe nötig war." Einige der ehemaligen Studenten sind gefallen, auch ein Professor der Akademie, der als Freiwilliger diente. Schmerzhafte Erfahrungen für einen Rektor.

Svitlana ist wieder zuhause in Meschyritsch. Zusammen mit ihrem Mann deckt sie den Tisch für das Abendessen. Hinter dem Haus grenzt der alte Schutzwall des Dorfes den Garten mit den Apfelbäumen und Gemüsebeeten ab. Manchmal fragt sich Svitlana, ob einmal die Zeit kommt, die keine Wälle mehr nötig hat.

Till Mayer berichtet regelmäßig für unsere Redaktion aus der Ukraine. Die Dokumentation des Kriegs in dem osteuropäischen Land ist ein Langzeitprojekt des Journalisten. Er berichtet seit über fünf Jahren von dem Krieg, der lange vergessen war. Mitte Oktober erscheint sein neues Buch: "Ukraine - Europas Krieg" im Erich-Weiß-Verlag.

 
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