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LESERANWALT
Leseranwalt: Die Täter-Herkunft als relevanter Sachverhalt
Anton Sahlender empflieht "Nafris, Normen, Nachrichten": Ein Sachbuch, das Vorwürfe gegen den Journalismus nach der Kölner Silvesternacht empirisch widerlegt.
'Nafris, Normen, Nachrichten': Main-Post-Leseranwalt Anton Sahlender empfiehlt ein Sachbuch, das die oft kritisierte Berichterstattung über die Silvesternacht von Köln empirisch aufarbeitet.
Foto: Foto:  Carmen Ramos | "Nafris, Normen, Nachrichten": Main-Post-Leseranwalt Anton Sahlender empfiehlt ein Sachbuch, das die oft kritisierte Berichterstattung über die Silvesternacht von Köln empirisch aufarbeitet.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 10:29 Uhr

Wer von Verunsicherungen und Selbstzweifeln erfahren und sie verstehen möchte, mit denen sich Journalisten nach ihren Berichten zu den teils kriminellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015/16 auseinandersetzen mussten, den verweise ich auf ein eben erschienenes Buch. Es macht die Auswahl von Informationen, Qualitätsstandards und die Handlungslogik detailliert empirisch durchschaubar, ja überhaupt alles das, was nach Willkommenskultur und Diskussionen um die Flüchtlingspolitik, die stark kritisierte Berichterstattung zu diesem einschneidenden Ereignis in Köln beeinflusst hat. Darüber entsteht zudem ein qualifizierter Einblick in Redaktionen von elf Tageszeitungen. 

Zwang zur "Selbstvergewisserung"

Einer der für das Buch interviewten Journalisten fasst eine Stimmungslage zusammen, welche alle Berichterstatter übereinstimmend beschrieben: "Normalerweise macht man sich ja nicht so abhängig von Leserbriefen, -zuschriften oder -anrufen, aber es war halt so eine Massivität, dass das schon zu einer Selbstvergewisserung zwang."

Journalistische "Selbstvergewisserungen" erschließen Interviews mit den Berichterstattern jener Nacht. Auch was starke Publikumsreaktionen für die Berichterstattung und Kommentierungen bedeutet haben, zeigt die Medienwissenschaftlerin Heike Haarhoff in ihrem Buch "Nafris, Normen, Nachrichten" (Nomos/Baden-Baden) auf. Sie belegt das alles mit Zahlen und Fakten aus 1017 Artikeln, liegt doch dem Werk ihre Dissertation zugrunde. Die etwa 400 Seiten genügen folglich wissenschaftlichen Ansprüchen. Samt methodischer Erfassung grundlegender Forschung empfehlen sie sich durchaus als Lehrbuch für die in Redaktionen tatsächlich praktizierte Ethik. Heike Haarhoff hat ein Stück Zeitgeschichte durchschaubar gemacht. Das Buch sollte in keiner Medien-Bibliothek fehlen.

Die Schlüsselfrage

Die Schlüsselfrage ist zur Herkunft der mutmaßlichen Täter aus jener Nacht gestellt. Dazu wurde dem Publikum in den Berichterstattungen nach den teils kriminellen Vorfällen auf der Kölner Domplatte nichts vorenthalten. Dieser oft geäußerte Vorwurf ist durch die Haarhoff-Studie gut nachvollziehbar widerlegt. So frühzeitig es Recherchen zuließen, wurde die Herkunft der für Übergriffe und kriminelle Handlungen beschuldigen Personen genannt (erstmals am 3.1.). Meist konnten sie von Betroffenen nur als dunkelhäutig und nordafrikanisch (siehe Abkürzung "Nafri") beschrieben werden. Insgesamt in 61,8 Prozent der Artikel wurde die ethnische Herkunft, in 52,6 der Aufenthaltsstatus, in 26,8 die nationale Herkunft und in 9,7, die religiöse Zugehörigkeit berichtet.

Es ging den interviewten Journalisten in ihren Berichten vorwiegend um Richtigkeit und Gültigkeit relevanter Sachverhalte, weniger um tatsächliche oder angenommene Folgen aus der Herkunftsnennung. Das lässt erkennen, gemessen an journalistischen Maßstäben wurde die Herkunft mutmaßlicher Täter gerade im Kontext mit der politischen Dimension des Ereignisses zu einem relevanten Sachverhalt. So spielte die Konsequenz aus Richtlinie 12.1 des Pressekodex, die Minderheiten vor Diskriminierung schützen soll, nur nachrangig eine Rolle. Die ließ damals die Nennung der Ethnie nur zu, wenn dafür ein "begründeter Sachbezug für das Verständnis des berichteten Vorgangs" vorlag. Wohl auch als Konsequenz aus Reaktionen zur Silvesternacht ersetzte der Presserat im März 2017 diese Voraussetzung für die Nennung durch "begründetes Interesse der Öffentlichkeit".

Anschaulicher kommunizieren

Die Autorin lässt den Einfluss der Gesamtsituation von Verlagen und Medienkonzernen nicht außer Acht. Die Journalisten aber, so Heike Haarhoff in ihrem Fazit, hätten erkannt, dass sie ihre Logik und ihre Standards noch transparenter und anschaulicher kommunizieren müssen, wenn sie verstanden werden wollen. 

Frühere Leseranwalt-Kolumnen zum Thema Diskriminierung:

2016: "Die Silvesternacht von Köln und das Vertrauen der Medien in das Publikum"

2019: "Redaktionelle Entscheidungen überprüfen"

Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.

 
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