Lieber Anas Modamani,
ich habe mich sehr gefreut, als ich Sie neulich live im ZDF gesehen habe. Bei Dunja Hayali erzählten Sie in gutem Deutsch von Ihrem Leben in Berlin, von Ihrer Freundin Anna, der gemeinsamen Wohnung, von Ihrem Studium der Wirtschaftskommunikation. Sie gelten als ein Flüchtling, ein Geflüchteter, der schon Vieles geschafft hat. Fünf Jahre nach dem berühmten Satz von Angela Merkel: "Wir schaffen das!"
Wir beide, lieber Anas, wir haben uns im Januar 2017 kennengelernt. Ich habe Sie damals bei Ihrer Gastfamilie besucht, weil ich den jungen Mann aus Syrien porträtieren wollte, der gegen Facebook, den mächtigen Internet-Riesen, vor Gericht zog. Ich habe Sie bewundert, für Ihren Mut. Sie schilderten mir, wie Sie als 18-Jähriger Ihre Familie verlassen haben, wie Ihre Mutter geweint hat, wie Sie aus Ihrer vom Bürgerkrieg zerstörten syrischen Heimat unter anderem im Schlauchboot übers Meer geflüchtet sind und im Sommer 2015 mit dem großen Flüchtlingstreck in Berlin ankamen.
Und Sie erzählten, wie Sie dort dann am 10. September 2015, im Aufnahmelager Spandau, jenes Foto geschossen haben, das für Sie gleichermaßen Fluch wie Segen wurde. Ohne dieses Selfie mit Angela Merkel wären Sie ein unbekannter Flüchtling geblieben, einer von vielen Hundertausenden in jenen Tagen. Nur wenige hätten Ihrer Geschichte Beachtung geschenkt. Und Sie hätten viel mehr Ruhe gehabt.
Ich weiß nicht, wie Sie das im Rückblick sehen. Wie oft haben Sie diesen Klick am Handy schon bedauert - oder vielleicht ja auch nicht?
Plötzlich wurde der Teenager als Terrorist diffamiert
Sie hatten sich gerade ein bisschen in Deutschland eingelebt, da nutzten rechte Kreise dieses Selfie mit Kanzlerin erstmals, um in den sozialen Netzwerken gegen Sie zu hetzen. Anas Modamani, der freundliche Teenager, der gerade begonnen hatte, Deutsch zu lernen, wurde plötzlich bei Facebook als Terrorist diffamiert, als Selbstmordattentäter von Brüssel.
Solche Fake News sind genauso schnell wie sie aufgeploppt sind auch wieder vergessen? Ein Irrtum. Nach dem Brandanschlag auf einen Obdachlosen im Dezember 2016 in Berlin wurde Ihr Foto mit Merkel erneut für rechte Hass-Kommentare verwendet, wurden Sie erneut als schlimmer Verbrecher gebrandmarkt. Ihre Bitte an Facebook, diese Fake-Posts zu löschen, stieß auf taube Ohren. Im Gegenteil: Die Algorithmen verbreiteten den Unsinn munter weiter.
Sogar die New York Times berichtete aus Würzburg
Freunde stellten schließlich Kontakt zum Würzburger Anwalt Chan-jo Jun her, der sich den Kampf um Rechtsstaatlichkeit im Internet auf die Fahnen geschrieben hat. Es kam zum Prozess, im Februar und März 2017 vor dem Landgericht Würzburg. Ein 19-jähriger Flüchtling verklagte Facebook, das Medieninteresse war riesig. Sogar die Ney York Times berichtete. Beeindruckend, wie cool Sie diesen Rummel durchgestanden haben, als junger Mensch in einem fremden Land.
Aber Sie waren entschlossen. Sie wollten erreichen, dass der Zuckerberg-Konzern selbst etwas unternimmt, um die Lügen über Sie aus dem Netz zu verbannen. Die Konzern-Anwälte argumentierten, dass das Netzwerk nicht Urheber der Fake News war, also auch nichts gegen die Verbreitung machen müsse, ja technisch gar nicht könne. Facebook kam mit dieser Argumentation durch, Ihr Antrag auf einstweilige Verfügung scheiterte. Aus heutiger Sicht geradezu absurd.
Lieber Anas, Sie haben in jenen Tagen in Würzburg trotz der Niederlage vor Gericht Geschichte geschrieben. Ohne die Klage eines 19-Jährigen aus Syrien hätte sich die Politik niemals so schnell bewegt. Längst hat der Gesetzgeber Facebook und Co. stärker an die Kandare genommen, heute müssen die sozialen Medien solche eindeutigen Lügen-Posts von sich aus löschen. Solch ein böses Spiel, wie es die Rechten damals mit Ihnen trieben, wäre nicht mehr so leicht möglich. Dafür muss man Ihnen dankbar sein.
Sie haben sich nach all dem Trubel aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Das kann ich gut verstehen. Jetzt, zum fünften Jahrestag der Entscheidung Merkels, die Grenzen aus humanitären Gründen nicht zu schließen, ist auch ihre Geschichte wieder öfter zu hören. Dabei setzen Sie auf Normalität. Die allermeisten Flüchtlinge, damals wie heute, seien gute Menschen, haben Sie bei Dunja Hayali gesagt. Sie wollten Deutsch lernen, arbeiten, eine Ausbildung machen oder studieren. Und vor allem in Frieden leben.
Ich glaube, Sie Anas, Sie schaffen das. Viel Glück dabei!
Herzliche Grüße aus Würzburg
Michael Czygan