Eigentlich könnte die Geschichte von Anas Modamani so eine richtig schöne Friede-Freude-Eierkuchen-Geschichte über die gelungene Integration eines Flüchtlings aus Syrien sein. Ein junger Mann, der in der Heimat Schlimmes erlebt, sich allein auf den Weg nach Europa macht, in Berlin landet, eine sympathische Gastfamilie findet, schnell die Sprache lernt und nebenbei auch noch arbeitet, um dem deutschen Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Ein Musterbeispiel für gelungene Integration...
Eigentlich. Denn es gibt Menschen in diesem Land, die wollen solche Geschichten nicht hören. Weil sie nicht passen zu ihrer Stimmungsmache gegen Zuwanderer, zu ihrem kruden Bild von Flüchtlingen, die den Sozialstaat ausnutzen und den Wohlstand gefährden. Und die Menschen wie Modamani am liebsten wegjagen würden. Immer wieder bringen sie den 19-Jährigen in Zusammenhang mit Terrorismus und Verbrechen. All das ist erstunken und erlogen. Aber die Vorwürfe wirken, die Verbreitung von Hass in den sozialen Netzwirken geht rasant.
Bilder gehen um die Welt
Der Grund, warum sich die Hetzer ausgerechnet Anas Modamani ausgesucht haben, ist ein Foto. Am 10. September 2015 macht der junge Mann, gerade erst ein paar Tage in Deutschland, in einer Asylunterkunft im Berliner Bezirk Spandau mit seinem Handy ein Selfie, ein Selbstporträt mit der Bundeskanzlerin. Es sind die Tage, kurz nach der Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge aus Budapest, als Angela Merkel das Heim besucht. Bereitwillig lässt sie sich von den dankbaren Flüchtlingen fotografieren. Die Bilder vom Selfie-Posieren gehen um die Welt, auch das mit Anas Modamani.
„Ein schöner Moment. Ich war froh, in Deutschland zu sein“, erinnert sich der junge Syrer an die Begegnung mit Merkel. Wir treffen Modamani 16 Monate später in einem Einfamilienhaus in Berlin-Biesdorf, wo er bei Anke Meuuw und ihrer Familie ein Zimmer gemietet und ein neues Zuhause gefunden hat. Bei Kaffee und Kuchen erzählt der junge Mann in Jeans und Karohemd vom früheren Leben in Syrien, seiner Flucht, seinem Alltag heute und seinen Träumen. Träume? Modamani ist bescheiden: „Ich möchte hier einfach nur leben wie normale Leute.“
Großes Medieninteresse
Damit dies gelingt, zieht der 19-Jährige jetzt vor Gericht. Unterstützt von seinem Würzburger Anwalt Chan-jo Jun klagt er gegen den Internet-Riesen Facebook. Er möchte erreichen, dass das soziale Netzwerk selbst aktiv wird und die Verbreitung des Merkel-Selfies in Verbindung mit verleumderischen, erfundenen Anschuldigungen konsequenter als bisher unterbindet und löscht. Weil dem Prozess am 6. Februar nach Meinung von Experten Pilotcharakter zukommt, ist Modamani derzeit ein gefragter Mann bei den Medien. ARD, RTL, BBC, CNN, „Washington Post“, Al-Arabiya oder „Spiegel“: Alle wollen seine Geschichte hören.
Anas verbringt seine Jugend in Daraya, einer Kleinstadt nahe Damaskus. Weil sie als Hochburg der Opposition gegen Präsident Assad gilt, steht die Stadt mit Beginn des Bürgerkriegs im Brennpunkt heftiger Kämpfe. Die Familie Modamani zieht mit ihren vier Kindern aufs Land. Unter erschwerten Bedingungen fährt Anas täglich zwei Stunden mit dem Bus zur Schule nach Damaskus und zurück. 2015 macht er sein Abitur. Weil jetzt der Einzug zum Militär droht, kratzt die Familie ihre Ersparnisse zusammen und schickt den Sohn nach Europa. „Wohin genau, wusste ich anfangs noch nicht. Nur raus.“
Sechs Wochen Flucht
Sechs Wochen ist Modamani unterwegs, bis er in Berlin ankommt. Die erste Etappe, mit dem Flugzeug via Beirut ins türkische Izmir, legt er relativ problemlos zurück. Dort trifft er Landsleute, die Deutschland als Ziel vorgeben. Schlepper versprechen, sie per Schlauchboot auf die griechische Insel Chios zu bringen. Zweimal fängt die Küstenwache das Boot ab, im dritten Anlauf fällt einen Kilometer vor der griechischen Küste der Motor aus. Panik bricht aus, das überfüllte Boot droht zu kippen. Modamani kann an Land schwimmen. Was er zurücklässt, darüber zu reden, fällt ihm auch heute noch schwer. „Das ist so traurig, wenn ich nur daran denke.“ Ob er Angst hatte? „Nur 50 Prozent schaffen die Flucht“, antwortet er lapidar.
Über Athen, Mazedonien und Serbien geht es mal mit Bussen, mal mit teuer erkauften Taxi-Fahrten, oft aber auch zu Fuß weiter bis zum Bahnhof in Budapest. Nach den erlösenden Worten aus Berlin schlägt er sich von dort weiter durch bis an die österreichische-deutsche Grenze. „Ich bin noch nie so viel gelaufen, habe noch nie so wenig geschlafen“, sagt er. „Aber ich habe es geschafft.“ Glücklich ruft er nach der ersten Nacht in Deutschland seine Mutter in Syrien an.
Flüchtling findet Gastfamilie
Ein fremdes Land, keine Ahnung von der Sprache, doch Anas Modamani ist vom ersten Tag entschlossen, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen. Derart engagiert, fällt er Helfern in seiner Berliner Unterkunft auf. Sie suchen für ihn über eine Facebook-Gruppe eine Familie, die ihn aufnehmen könnte. Drei Familien melden sich, man trifft sich. „Sie waren alle nett“, sagt der Syrer. Er entscheidet sich für Anke Meuuw, ihren Mann und die sechs Jahre alte Tochter. „Sie waren sehr sympathisch und sie haben mir das größte Zimmer in ihrem Haus angeboten.“
Tierärztin Meuuw gibt die Komplimente zurück. Als sich die Familie entschieden habe, einen Flüchtling aufzunehmen, habe sie – „ganz ehrlich“ – mehr an eine Mutter mit Kind gedacht. „Aber Anas hat uns alle begeistert.“ Im Januar 2016 zieht er in Biesdorf ein. Für sie sei er „wie ein großer Sohn“, sagt Meuuw, „ein Teil der Familie“. Modamani lächelt verlegen. Er weiß, was er an den Gasteltern hat. Sie verbringen Freizeit miteinander, lachen gemeinsam, haben Spaß. „Erst vorhin war mal wieder Handtuch-Schlacht im Bad.
“ Und sie stehen an seiner Seite, wenn er mit der Asylbürokratie kämpft, wenn er Nächte in den Schlangen vor dem Lageso, der Berliner Sozialbehörde, verbringt, um an Papiere und Geld zu kommen. Mittlerweile ist er als Kriegsflüchtling anerkannt, genießt den subsidiären Schutz, darf bis 2020 bleiben.
Arbeit bei McDonald's
Bei der Ausländerbehörde staunen sie nicht schlecht, als Modamani, der täglich einen Deutschkurs besucht und die Sprache mittlerweile richtig gut spricht, nach einer Arbeitserlaubnis fragt. Den dafür notwendigen Integrationstest hat er längst abgelegt. „Mit 33 von 33 Punkten, der Streber“, witzelt die Gastmutter. Und so steht der Syrer seit Oktober für 140 Stunden im Monat bei McDonald's an der Kasse – nach der Schule in der Spätschicht bis 22 Uhr. Dabei darf er vom Lohn nur ein Taschengeld behalten, der Rest wird mit den Unterbringungskosten verrechnet. „Aber ich mag meine Arbeit.“
Risse bekommt die schöne Geschichte über die gelungene Integration eines Flüchtlingsjungen erstmals an Ostern. Ein Freund entdeckt Modamanis Kanzlerin-Selfie auf einer rechten Propaganda-Seite mit Verdächtigungen, „Merkels Flüchtling“ sei einer der IS-Terroristen, die für die Attentate in Brüssel verantwortlich sind. Noch in der Nacht versucht Anke Meuuw jemanden bei Facebook zu erreichen, um das Bild zu löschen. Auch an die Polizeibehörden wendet sie sich. „Die Reaktion ist gleich null.“ In Syrien weint die Mutter um ihren Sohn. „Sie dachte, ich muss ins Gefängnis.“ Modamani selbst bleibt cool. „Ich wusste ja, dass da nichts dran ist.“ Schließlich erreicht Meuuw einen Journalisten der Berliner Zeitung „B.Z.“ Der Artikel, den er schreibt, beruhigt. „Jetzt konnten wir der Hetze etwas entgegenstellen.“
Ausländerfeinde geben keine Ruhe
Doch die Ausländerfeinde geben keine Ruhe. Nizza, Würzburg, Ansbach... Wann immer es in den folgenden Monaten Terroranschläge gibt, tauchen die Verleumdungen auf einschlägigen Internet-Seiten wieder auf. Die Urheber sind meistens nicht auszumachen, Anbieter wie Facebook fühlen sich nicht zuständig, so dass der Hass im Netz weite Verbreitung findet. Im Dezember ist es wieder soweit. Zunächst erscheint eine Bildmontage, die Merkel und Modamani in Selfie-Pose vor dem Lastwagen zeigt, mit dem der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter unterwegs war. Darunter der Schriftzug „Merkels Tote“. Kurz darauf behaupten die Hetzer, der Syrer habe etwas mit dem Anschlag in einem Berliner U-Bahnhof zu tun. Dabei sind die Verdächtigen schon gefasst. „Obdachlosen angezündet. Merkel machte 2015 Selfie mit einem der Täter.“ Binnen weniger Stunden wird der haltlose Post 500-mal geteilt.
Anke Meuuw ist wütend. „Ich habe Angst, dass irgendein Depp so etwas glaubt und Anas auf der Straße angreift.“ Um dauerhaft Ruhe zu haben, empfiehlt sie ihrem Schützling jetzt, Anwalt Jun einzuschalten. Der streitet schon länger gegen Facebook, will, dass das soziale Netzwerk Verleumdungen, die gegen deutsches Recht verstoßen, umgehend löscht, selbst wenn die eigenen Standards da nicht so streng sind. Jetzt wird mit Spannung erwartet, wie das Landgericht Würzburg urteilt. Zwar hat Facebook – nicht zuletzt auf öffentlichen Druck – mittlerweile den einen oder anderen Hass-Post gegen den Syrer gelöscht, aber längst nicht alle. Auch diese Woche erhalten Nutzer, die einen Eintrag melden, die Nachricht: „Verstößt nicht gegen die Gemeinschaftsstandards.“
Derweil ist Anas Modamani gespannt, was auf ihn zukommt. Das öffentliche Interesse ist dem 19-Jährigen etwas unheimlich. Er hat eine einfache Botschaft: „Ich will nicht, dass die Leute denken, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich will in Ruhe leben.“ Damit die Geschichte von Friede, Freude, Eierkuchen weitergeht.
Landgericht Würzburg entscheidet am 6. Februar
Über einen Antrag auf einstweilige Verfügung gegen den Facebook-Konzern entscheidet das Landgericht Würzburg am Montag, 6. Februar, in öffentlicher Verhandlung. Kläger ist der Berliner Flüchtling Anas Modamani. Er verlangt, dass dem sozialen Netzwerk untersagt wird, verleumderische Fake News über ihn zu verbreiten. Vertreten wird Modamani vom Würzburger Fachanwalt für IT-Recht, Chan-jo Jun. Er streitet schon länger öffentlich gegen Facebook und möchte, dass das soziale Netzwerk konsequenter gegen Hass und Hetze im Netz vorgeht.
Befürchtungen, Facebook könnte versuchen, sich dem Prozess durch Verweis auf seinen Sitz in Dublin zu entziehen, haben sich nicht bestätigt. Mittlerweile habe eine Hamburger Anwaltskanzlei mitgeteilt, dass es die Interessen des Konzerns in dem Verfahren vor dem Landgericht vertrete, sagte Gerichtssprecher Michael Schaller am Mittwoch auf Nachfrage dieser Redaktion. Damit könne das Verfahren, wie vorgesehen, stattfinden.
In Würzburg wird verhandelt, weil Modamani seinen Antrag hier eingereicht hat. Anwalt Jun: „Das Internet bietet einen fliegenden Gerichtsstand.“ Der Kläger könne sich deswegen den Gerichtsstand überall dort aussuchen, wo die Fake-News abrufbar gewesen sei, „und das ist auch in Würzburg“.