Liebe Erstwählerinnen und Erstwähler!
Kann Angela Merkel nicht einfach Kanzlerin bleiben? - Diesen Satz habe ich kürzlich bei einem Familientreffen gehört, als die Rede auf die Bundestagswahl kam. Eine meiner Nichten, gerade 18 geworden, hat die Frage geäußert. "Süße Naivität", wie ein Verwandter ihr sogleich unterstellt hat, beschreibt die junge Frau aber nicht. Ich denke, dass der Satz rhetorisch gemeint war und dass er die Sehnsucht nach Beständigkeit in einer krisengeschüttelten Zeit spiegelt.
Für Erstwähler immer präsent: Kanzlerin Merkel
Für Euch Erstwählerinnen und Erstwähler war Kanzlerin Merkel gefühlt ja immer präsent. Als Ihr mit Eurer Schultüte das erste Mal in die Grundschule gestiefelt seid, war die Frau aus der Uckermark schon Regierungschefin; als Ihr jetzt unter Coronabedingungen Schulabschluss gemacht habt, war sie es noch immer. "Ich kann mir Deutschland ohne Merkel nicht vorstellen", hat meine Nichte gesagt. Sie ist, glaube ich, politisch gar nicht konservativ. Sie erlebt halt nur, wie Ihr alle aus der Erstwähler-Generation, gerade eine Corona-Jugend.
Jugend 2021: Bodennah statt abgehoben
Eine Jugend also, in der nichts mehr so ist, wie es mal war und wie ihr es erwarten durftet. In der sogar Deutschlands langjährige politische Übermutter sich verabschiedet und nichts mehr sicher scheint – vor allem nicht Eure Zukunft. Während Eure älteren Geschwister nach dem Abi noch hochfliegende Pläne machen konntet, muss Eure Generation am Boden bleiben. Zum Kiwipflücken nach Neuseeland? Im VW-Bus übern Sommer durch Europa? Schnell mal ein Praktikum im Ausland?
Tja, so etwas musste Eure Generation coronabedingt weitgehend lassen – und das wisst Ihr natürlich auch. Ihr seid ja aktuell schon glücklich, wenn ihr Euch in der Gruppe für einen Nachmittag an einem fränkischen See treffen könnt, ohne von Ordnungshütern verjagt zu werden wie noch vor Monaten.
Dämpft krisengeprägte Jugend Erwartungen?
Entsprechend pragmatisch sind Eure Erwartungen an die Zukunft. Nach dem, was ich im Bekannten- und Verwandtenkreis so höre, wollt Ihr nicht mehr Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff werden und nicht Eventmanager. Ihr wollt "was Systemrelavantes" machen; da hat die Krise Euch geprägt. Von einigen von Euch jungen Leuten höre ich, die gerne in ihrem unterfränkischen Dorf wohnen bleiben wollen, weil es sich unter Corona "auf dem Land leichter lebt" – wäre nicht die Freizeitbespaßung auf dem Land so mager, die Ausbildungschance nicht berechenbar und die Busverbindung in die unterfränkischen Städte so schlecht.
Das Problem für Euch Jungwähler scheint mir zu sein, dass das, was euch gerade umtreibt, in der Wahlkampagne fast aller Parteien so gut wie nicht abgebildet wurde. "Das Wichtigste aktuell sind einheitliche und sinnvolle Coronamaßnahmen", schreibt mir ein Student. Luftfilter in Klassenzimmern und Hörsälen etwa, damit Präsenzunterricht bleiben kann - logisch eigentlich.
Der Wahlkampf lässt Lebensrealität von jungen Leuten außen vor
Komisch nur, das der Wahlkampf, so man ihn nach Wahlplakaten beurteilt, Corona komplett außen vor ließ und lässt. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass Politiker mit Coronamaßnahmen deshalb so ungern Wahlkampf machen, weil die Pandemie-Entwicklung unvorhersehbar ist, ärgert es Euch offenbar doch, wenn Eure Krisenrealität in diesem Wahlkampf so selten abgebildet ist.
Klar, viele von Euch stehen der "Fridays for Future-Bewegung" nahe und schauen im Wahlkampf auf Klimaziele. Wollt Ihr Eure Wahlentscheidung aber danach treffen, welche Partei den sinnvollsten Klimaschutz betreibt, tut Ihr Euch auch nicht leicht: Klimaschutz predigen plötzlich alle Parteien, nicht nur die Grünen.
"Aber wenn ich dann bald nicht mehr mit dem Auto von meinem Kaff zur FH fahren kann, dann wähle ich sie nicht", sagt meine Nichte. Allerdings muss man beim Blick auf regionale Wahlplakate eingestehen, dass das Wahlplakat der Grünen mit Robert Habecks (!) Konterfei und dem Slogan "Züge, Schulen, Internet – Ein Land, das einfach funktioniert" dem Erstwähler-Lebensumfeld wohl noch am nächsten kommt. Und relativ konkret wirkt – jedenfalls im Gegensatz zu den schwammigen Aussagen der Kanzlerkandidaten anderer Parteien.
Jugend-Apps: Laschet-Lacher und Baerbock-Versprecher
Olaf Scholz wirbt mit "Respekt für Dich", Armin Laschet mit einem "modernen Deutschland". Geht es noch inhaltsleerer? Tiktok, Eure Leib- und Magen-App, liefert den Laschet-Lacher und Baerbock-Versprecher in Endlosschleife, außerdem Fotos von Markus Söder als Shrek – von damals, als noch Fastnacht in Franken vor Publikum stattfand. Hilft also bei der Wahlentscheidung nicht wirklich weiter.
Euch bleibt also, liebe Erstwähler-Generation, nur die Ochsentour: Parteiprogramme lesen und vergleichen. Wer nach Merkel die Zukunft prägt, müsst Ihr mitbestimmen. Schließlich seid Ihr noch länger auf dieser Erde als wir.
Ich wünsche Euch allen eine gute Wahl!
Gisela Rauch, Redakteurin