Dear britische Boulevardpresse,
kennt Ihr die Situation, wenn Ihr an der Supermarktkasse in der Schlange steht und der Kunde hinter Euch immer näher kommt, bis Ihr seinen Einkaufswagen im Rücken spürt? Oder wenn Ihr als einziger an einer Bushaltestelle wartet und sich ein Unbekannter direkt neben Euch setzt, obwohl die ganze Wartebank noch frei ist? Oder wenn Euch auf einer Party ein Wildfremder anspricht und Euch beim ersten "Hello" schon so nahe kommt, dass Ihr seinen Atem spürt?
Warum ich Euch das frage, liebe Kollegen? Weil ich mich in den vergangenen Tagen immer wieder an solche Situationen erinnert habe. Das lag an Euch. Ihr wart der nervige Kunde hinter mir, der distanzlose Wartende, der aufdringliche Partygast. Obwohl der Auslöser alles andere als eine Party oder ein simpler Einkauf ist.
Es geht um den Fall Maddie, um das britische Mädchen, das 2007 – damals drei Jahre alt – in Portugal verschwand und bis heute nicht mehr aufgetaucht ist. Am Mittwoch vergangener Woche präsentierten deutsche Ermittler einen neuen Tatverdächtigen: den Unterfranken Christian B. Tags darauf forsteten wir dann unser Redaktionsarchiv durch und stießen auf einen Artikel aus dem Jahr 1994 über einen Gerichtsprozess in Würzburg. Damals war eben jener B. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden. Als wir am selben Abend darüber berichteten, war Unterfranken längst in Euren Fokus gerückt, liebe Kollegen.
Noch am Donnerstag rief mich zu später Stunde der erste Reporter aus Großbritannien an. Und wollte - höflich, aber bestimmt - "exklusive information" über Christian B. Damit blieb er nicht allein, wie Ihr vielleicht wisst: Bis Freitagmorgen hatten sich drei weitere Journalisten von britischen Boulevardzeitungen gemeldet. Und es sollten noch mehr folgen. Per Telefon, SMS, E-Mail, Facebook. Nicht nur bei mir, auch bei Kollegen. Ihr wolltet wissen, wo Christian B. in Unterfranken gewohnt hat. Ob wir seine Familie oder Freunde kennen. Oder ob wir den Kontakt zu dem ersten Mädchen herstellen könnten, dass B. in den 1990er Jahren missbraucht hat. Einige von Euch boten Geld, andere ihre Dankbarkeit.
Okay, unerwartet war Euer Interesse nicht. Der Fall Maddie wurde und ist schließlich ein Medienereignis – auch weil Maddies Eltern die Öffentlichkeit suchten. Überrascht waren wir dann aber doch, liebe Kollegen, als einer von Euch sogar an der Pforte des Verlagsgebäudes in Würzburg stand. Ob er einen Blick in unser Archiv werfen und ein Interview mit einem Reporter führen könne?
Wenn ich ehrlich bin, war ich froh, dass ich an diesem Tag im Homeoffice war. In dieser Woche versuchte eine Reporterin mit demselben Anliegen ihr Glück in der Würzburger Lokalredaktion. Während ich das schreibe, spüre ich gewissermaßen den Einkaufswagen im Rücken. Ja, das gehört eben zu Eurem Job. Und sicher, Hartnäckigkeit ist eine wichtige Reporter-Tugend. Aber Penetranz ist es nicht.
Wichtig ist mir jedoch ein anderer Punkt. Wir wollten sicher nicht unkollegial wirken. Aber die Vorstellung, dass wir dazu beitragen, dass ein ungehaltener Schwarm von Reportern im beschaulichen Bergtheim im Landkreis Würzburg für ein Einkaufswagen-im-Rücken-Gefühl sorgt oder gar ein Missbrauchsopfer unvorbereitet mit der Vergangenheit konfrontiert, gefiel uns ganz und gar nicht.
Ihr müsst bedenken: Zuletzt war Unterfranken für Euch vor vier Jahren interessant. Damals kam es in einem Zug bei Würzburg zum ersten islamistischen Anschlag in Deutschland. Nach ein paar Tagen war das Thema für Euch durch. Für uns und für die ganze Region nicht. So wird es auch diesmal sein. Wir von der Lokalzeitung müssen uns in Bergtheim auch dann weiter sehen lassen können, wenn der Medienhype um den 3900-Seelen-Ort vorüber ist. Mit Anstand und ohne Penetranz.
Ja, auch wir nennen inzwischen B.'s einstigen Heimatort. Unter anderem, weil Ihr eben erfolgreich seid in dem, was Ihr tut: Dass der Tatverdächtige (übrigens, auch für B. gilt die Unschuldsvermutung, so schwer es auch fällt) in Bergtheim gelebt hat, wurde auch von deutschen Medien längst verbreitet.
Ich weiß nicht, ob Ihr vor solchen Veröffentlichungen die Konsequenzen bedenkt. Wie dem auch sei. Der britische Boulevard ist nicht umsonst berühmt-berüchtigt. Ich habe jedenfalls in den vergangenen zehn Tagen zwei Dinge gelernt. Erstens: Ich möchte nicht David Beckham, Prinz Harry oder irgendeine andere Personen sein, die Ihr regelmäßig im Visier habt. Zweitens: Ich möchte kein britischer Boulevard-Reporter sein.
Kind regards
Benjamin Stahl, Redakteur
Und weil es in diesem Land auch Journalismus gibt der integer, informativ und recherchierend ist, ohne "Effekthascherei" und Sensationsjournalismus.
Und deshalb ist ein Artikel wie dieser eben wichtig.
Weil er integer, informativ und recherchierend ist und nicht nur auf Steigerung der Auflage ausgerichtet ist.
Ich jedenfalls bin Herrn Stahl dafür dankbar, dass er dem Leser zeigt, wie Journalismus auch sein kann und uns einen Einblick in die "Zeitungswelt" hinter dem gedruckten Artikel gibt.
Gruß
Heinz Hempel