Wer der neuen Ballettcompagnie des Würzburger Mainfranken Theaters bei der Arbeit zuschauen möchte, der muss (oder darf) erst einmal eine Zeitkapsel durchqueren. Die Compagnie probt nämlich in der Mozartschule, einem Gebäude aus den 1950er Jahren, das bis 2001 ein gleichnamiges Gymnasium beherbergte. Kürzlich hat nach Jahren des Stillstands der Würzburger Stadtrat aber ein Entwicklungskonzept verabschiedet, das eine Sanierung und eine Aufteilung in kulturelle Nutzung und Wohnen vorsieht.
Allzu viel ist in den 50 Jahren der bisherigen Nutzung offensichtlich nicht in das Haus investiert worden, sieht man einem Anstrich in 70er-Jahre-Grasgrün in den Umkleiden im Untergeschoss ab. Alles atmet den Charme des Vergangenen und des Provisorischen. Wobei die Architektur als solche interessanterweise kaum von ihrer lichten Leichtigkeit eingebüßt hat. Und der Pausengong funktioniert auch noch.
Sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer bilden das neue Ensemble
Kein schlechter Platz also für einen Neubeginn: Sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer bilden das neue Ensemble des Mainfranken Theaters unter der Leitung von Direktorin Dominique Dumais und Artist in Residence Kevin O'Day. Ein paar kennen sich von früheren Projekten oder Engagements, als Gruppe aber sind sie noch eine große Unbekannte.
Wie berichtet, war der Vertrag der langjährigen Ballettchefin Anna Vita zum Ende der Spielzeit 2017/18 nicht verlängert worden. Vita (54) hatte das Würzburger Ballett seit der Spielzeit 2004/05 geleitet und mit ihren Choreografien meist für volle Häuser gesorgt. Gegen ihren Weggang hatte es Proteste seitens des Publikums gegeben. „Das Bühnenschaffen muss sich kontinuierlich neu erfinden, immer wieder neue künstlerische Handschriften entwickeln können“, so Intendant Markus Trabusch. Um das zu erreichen, seien auch personelle Wechsel immer wieder notwendig.
Intensiv arbeitet die Truppe dieser Tage parallel an zwei Stücken
Mit einer Neueinstudierung der Choreografie „Chansons“, die Dominique Dumais in ihrer Zeit am Nationaltheater Mannheim geschaffen hat, wo sie von 2002 bis 2016 engagiert war, wird nun also am 29. September die neue Compagnie die neue Spielzeit eröffnen. Normalerweise probt ein Ensemble die Saisonpremiere bereits in der Schlussphase der alten Spielzeit – in diesem Fall hat das aus nachvollziehbaren Gründen nicht stattgefunden. Umso intensiver arbeitet die Truppe dieser Tage parallel an zwei Stücken, erklärt Dörte Kordzumdieke, Ballettmanagerin und ebenfalls neu in Würzburg: „Chansons“ und „Ludwigs Leidenschaften: Vier Mal Beethoven“, das am 3. November Premiere hat.
Ein Probentag beginnt immer mit einem Training – klassisch oder modern –, bevor an der eigentlichen Choreografie gearbeitet wird. An diesem Morgen Ende August sitzt das Ensemble im Probensaal im Untergeschoss erst einmal im Kreis auf dem ehemals weißen Ballettboden, der über das grünbraune Linoleum gelegt wurde.
Nur wer die Möglichkeiten seines Körpers kennt, kann ihn optimal einsetzen
Die Ballettsprache ist Englisch. Dominique Dumais, die alle Übungen mitmacht, erklärt die Physiologie des Fußes. Jeden Knochen, jeden Muskel, jedes Gelenk. Die Tänzerinnen und Tänzer sollen verstehen, wie ihr wichtigstes Werkzeug, ihr Körper, funktioniert. Und ihn spüren. Etwa, indem sie dünne Stöckchen an den Außenseiten ihrer Füße entlangrollen lassen. „Wenn wir die Strukturen kennen, wenn wir wissen, wie unser Körper funktioniert, haben wir weitaus mehr Bewegungsoptionen. Und wir können weitaus virtuoser tanzen. Dann müssen wir uns nicht in irgendetwas hineinwerfen und hoffen, dass es gelingt, sondern wir wissen, dass es gelingt“, sagt die Ballettdirektorin.
Vom Kleinen ins Große: Es folgen hochkomplexe Bewegungsabläufe im Sitzen, Liegen, Stehen, die entfernt an Yoga-Übungen erinnern und offensichtlich zum Ziel haben, alle Teile des Körpers zu mobilisieren und zu sensibilisieren. Gleichzeitig scheint es, als geben diese eleganten, geschmeidigen Abläufe eine Ahnung des Bewegungsvokabulars, mit dem Dominique Dumais arbeitet.
Der komplexe Prozess, den auch die kleinste Bewegung im Körper auslöst
Die Choreografin will die komplexen Prozesse verdeutlichen, die jede Bewegung im gesamten Körper auslöst. Sie strebt dabei nicht ausdrücklich natürliche Bewegungen an (im Gegensatz etwa zur artifiziellen Strenge des klassischen Balletts), sondern neutrale, wie sie sagt. „Es geht darum, eine Haltung zu finden, in der mein Körper seine Möglichkeiten optimal nutzen kann.“
Dumais geht herum, korrigiert, kommentiert, ermutigt, lobt, bestätigt, regt an. „Ich will nur sehen, was passiert, wenn du diese Bewegung vom Kopf her machst“, sagt sie zu einer Tänzerin, die sich in einer Drehung noch nicht richtig wohl fühlt. Und tatsächlich: Plötzlich stimmt der Ablauf. Ein Aha-Moment. Tanz passiert zum großen Teil im Kopf, Dominique Dumais gibt immer wieder Hilfestellung für die Fantasie: „Stelle dir eher etwas Zielgerichtetes vor als etwas Rundes.“ Jede Bewegung, jede Geste hat eine Richtung, ein Gewicht – „das ist sehr, sehr wichtig“.
Das Duett wirkt wie ein Kampf um Nähe und Abstand
Nach gut zwei Stunden Training dann die eigentliche Arbeit an der Choreografie. Im Untergeschoss an einem Duett mit Clara Thierry aus Mauritius und Dominic Harrison aus Sheffield und der Zweitbesetzung mit Viola Daus aus Lübeck und Marcel Casablanca aus Barcelona. In der Turnhalle im ersten Stock gleichzeitig ein Solo mit Katherina Nakui aus Vancouver und Anna Jirmanova aus Tschechien.
Das Duett zu Leonard Cohens „Halleluja“ wirkt wie ein Kampf um Nähe und Abstand, um Vertrauen und um Dominanz. Tyrel Larson, der 14 Jahre Solist in Mannheim war und jetzt Compagniemitglied und Probenleiter in Würzburg ist, achtet vor allem auf Timing und das Organische der Bewegungen. Wenn etwa ein Schritt zu groß ausfällt und deshalb eine Drehung nicht mehr präzise genug ankommen kann, sieht der das sofort. Immer wieder also neu aufstellen, Anlauf nehmen, wieder innehalten, wieder probieren.
Eine kleine Korrektur, und schon nimmt der Körper eine völlig andere Haltung ein
Ungeheuer anstrengend muss das sein. Für den Körper wie für den Kopf. Auch Katherina Nakui und Anna Jirmanova werfen sich zu „Ne me quitte pas“ von Jacques Brel, gesungen von Nina Simone, unter den Anweisungen von Zoulfia Choniiazova immer wieder auf den Boden, springen oder stampfen auf. Choniiazova, geboren in Tadschikistan, hat schon früher Stücke von Dominique Dumais einstudiert, sie weiß genau, welche Bewegung welchen Effekt haben muss. Und kann es entweder vormachen oder erklären. Denn manchmal kann die Lösung ganz einfach sein: „Entlaste dieses Bein ein bisschen früher“, sagt sie, und schon hat der ganze Körper eine vollkommen andere Haltung. Wieder ein Aha-Effekt.
Das neue Ballett am Mainfranken Theater
Dominique Dumais, Ballettdirektorin, Jahrgang 1968, stammt aus Québec, Kanada. Sie war Solistin des National Ballet of Canada und von 2002 bis 2016 Hauschoreografin und stellvertretende Direktorin der Tanzcompany des Nationaltheaters Mannheim.
Kevin O'Day, Artist in Residence, geboren 1962 in Phoenix, Arizona, war von 1983 bis 1991 Solist in den USA, ab 1991 Mitglied in William Forsythes Frankfurter Ballett und von 2002 bis 2016 künstlerischer Direktor des Kevin O'Day Ballett NTM am Nationaltheater Mannheim.
Marcel Casablanca, geboren und ausgebildet in Barcelona, war zuvor am Konzert Theater Bern und am Theater Gießen engagiert.
Viola Daus, geboren in Lübeck, ausgebildet in Mannheim. Sie war Young Artist beim Kevin O'Day Ballett NTM Mannheim und Mitglied im Ballet Junior in Genf.
Debora Di Biagi, geboren in Italien, ausgebildet in Rom und Florenz. Sie war Mitglied des Junior Balletto di Toscana, der Delattre Dance Company Mainz und des Nordharzer Städtebundtheaters.
Étienne Gagnon-Delorme, geboren in Ottawa, Kanada, ausgebildet in Montreal. Er trat mit Les Grands Ballets Canadiens auf und arbeitete als Choreograf und Interpret mit der Singer/Songwriterin Ariane Moffatt und mit dem Montreal Symphony Orchestra.
Anna Jirmanova, geboren in Tschechien, ausgebildet in Prag. Sie tanzte bei Dantzaz in Spanien, bei Norddans in Schweden und in der Tanzcompagnie Gießen.
Dominic Harrison, geboren in Sheffield, England, ausgebildet in London. Er war am Northern Ballet, am Scottish Ballet, am English National Ballet, am Ballet Ireland und beim Ballett Vorpommern, Greifswald.
Ka Chun Hui, geboren und ausgebildet in Hongkong. Er tanzte und choreografierte für das Hong Kong Ballet und das Danish Dance Theater.
Dávid Kristóf, geboren in Ungarn, ausgebildet in Budapest. Er tanzte am Nationaltheater in Pécs, Ungarn, und war von 2011 bis 2018 Tänzer und Choreograf am Nationaltheater Mannheim.
Tyrel Larson, geboren in Edmonton, Kanada, begann mit Jazz, Stepptanz, Musical, Hiphop und schließlich Ballettunterricht an der National Ballet School. Von 2002 bis 2016 war er Solist beim Kevin O'Day Ballett NTM Mannheim. In Würzburg ist er als Tänzer und Probenleiter engagiert.
Katherina Nakui, geboren und ausgebildet in Vancouver, Kanada. Sie tanzte für Noord Nederlandse Dans in Groningen, im Ballett Mannheim, bei imPerfect Dancers in Italien und am Dance Company Theater Osnabrück.
Maya Tenzer, geboren in Kanada, ausgebildet in Vancouver, wo sie auch in den Compagnien Ballet BC, Company 605 und Inverso Productions tanzte.
Clara Thierry, geboren auf Mauritius, ging mit 15 Jahren nach Europa, um Tänzerin zu werden. Ausbildung in Paris und Lausanne, tanzte für Cinevox Junior Company in der Schweiz und die Tanzcompagnie Gießen.
Zoulfia Choniiazova, geboren in Tadschikistan, ausgebildet in Taschkent, Usbekistan. Tanzte am Moskauer Ensemble und wurde 1999 Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim. Seit 2009 übernimmt sie regelmäßig Einstudierungen.
Marius Krisan, Ballettmeister und Probenleiter. Geboren und ausgebildet in Rumänien. Engagements an der Staatsoper Cluj-Napoca, Rumänien, und an der Komischen Oper Berlin. Seit 1999 Ensemblemitglied am Mainfranken Theater.