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Würzburg
Was Würzburg und Jerusalem seit über 1000 Jahren verbindet
MainLit: Der Autor Thomas Sparr erzählt, wie deutsche Juden in Jerusalem eine neue Heimat fanden. Und leitet daraus Grundsätze für den Umgang mit Migration heute ab.
Der in Würzburg geborene deutsch-jüdische Dichter Jehuda Amichai bei einem Besuch in Würzburg 1992 – fotogfrafiert neben dem letzten erhaltenen Stein der zerstörten Hauptsynagoge.
Foto: Norbert Schwarzott | Der in Würzburg geborene deutsch-jüdische Dichter Jehuda Amichai bei einem Besuch in Würzburg 1992 – fotogfrafiert neben dem letzten erhaltenen Stein der zerstörten Hauptsynagoge.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.12.2021 12:01 Uhr

Die Städte Jerusalem und Würzburg verbinden mehr als 1000 Jahre jüdische Kulturgeschichte. Walter von der Vogelweides "Palästinalied" setzte der heiligen Stadt ein Denkmal. Jehuda Amichai – 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren – wurde zu einem der weltweit renommiertesten deutsch-jüdischen Lyriker und Übersetzer von Paul Celans Texten. In einer musikalischen Lesung in der Würzburger Neubaukirche, in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Hauptsynagoge, zeichnet der Autor Thomas Sparr unter dem Titel "Grunewald im Orient" im Rahmen des Literaturfestivals MainLit ein Bild des Jerusalemer Viertels Rechavia, das ab 1933 zum Zentrum der deutschen Juden wurde. Durch das Aufeinandertreffen von Gershom Scholem, Else Lasker-Schüler, Paul Celan und Hannah Arendt entsteht ein Bild des Stadtteils und der Menschen, die hier einen lebhaften deutsch-jüdischen Mikrokosmos bildeten. Jehuda Amichai ist dabei ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Capella Antiqua Bamberg spielt dazu auf über 30 historischen Instrumenten Kompositionen der sephardischen Juden bis zu fast vergessenen Melodien aus dem mittelalterlichen Jerusalem und baut so eine musikalische Brücke, die  durch 800 Jahre Musikgeschichte Jerusalem und Europa verbindet.

Frage: Herr Sparr, das Programm "Grunewald im Orient" ist ein historisches, es geht um die jüdischen Emigranten aus Deutschland in Jerusalem ab den 1930er Jahren. Was erhoffen Sie sich von einem solchen Programm für die Gegenwart?

Thomas Sparr: Ich glaube, dass wir uns in der Gegenwart klarmachen müssen, was Emigrationen in unserer Geschichte bedeutet haben. Wir sind heute ein Land, das Flüchtlinge aufnimmt. Immigranten aufnimmt. Das über Zuwanderung diskutiert. Aber gleichzeitig sind wir ein Land, aus dem sehr viele Menschen fliehen mussten oder aus freien Stücken emigrierten. Und das zeigt dieser winzige Ort in Jerusalem, der Stadtteil Rechavia – das heißt "Weide oder Weite Gottes" –, wie unter einem Brennglas. Dorthin kamen in den 1920er Jahren Menschen aus zionistischer Entschlossenheit, die Deutschland hinter sich lassen wollten. Oder die Armut in Galizien, in Polen, in Russland. Die Entrechtung, die Pogrome. Diese Menschen wollten eine eigene jüdische Heimat aufbauen. Insofern glaube ich, dass dieses Rechavia so etwas wie eine Lektion für uns birgt. Flüchtlinge zu empfangen, sie aufzunehmen, birgt die große Möglichkeit der Bereicherung für alle und den Aufbruch zu etwas Neuem.

Thomas Sparr, Autor und Vortragender
Foto: CAB-Artis - 2020 | Thomas Sparr, Autor und Vortragender
Nun ist seit 2015 eine starke Gegenbewegung im Gange. Warum sind wir so resistent gegen die Einsicht, dass das Fremde eben auch Bereicherung sein kann?

Sparr: Es ist ein großes politisches Versäumnis über viele Jahre vor allem der großen politischen Parteien – man hätte sagen müssen, wir brauchen eine Zuwanderung. Zuwanderung ist noch etwas anderes als Einwanderung. Wir müssen Menschen aus anderen Kulturkreisen haben, die zu uns kommen, die ausgebildet sind oder die wir ausbilden. Weil wir in wenigen Jahrzehnten einen Mangel an Arbeitskräften haben werden. Das hätte man schon längst machen sollen. Insofern hat die Menge der Flüchtlinge 2015 diese Gesellschaft überfordert. Man muss auch verstehen, dass da Ängste geschürt worden sind. Weil man nicht darauf vorbereitet war und weil man auch kein Verfahren hatte, Menschen regelmäßig und kontrolliert, kontingentiert aufzunehmen. Deshalb erschien diese Einwanderung von 850 000 Flüchtlingen dann doch wie eine Invasion, die es aber gar nicht war.

Die Gegenbewegung fing an mit besorgten Bürgern und mündet jetzt unter anderem in neuem oder auch nicht so neuem Antisemitismus.

Sparr: Antisemitismus und Islamophobie sind verschwisterte, grauenvolle Bewegungen. Eng benachbarte Bewegungen, das muss man immer wieder sagen. Das hat sicherlich auch historische Gründe. Und es kommt daher, dass wir unsere Geschichte zu wenig achten und wahrnehmen.

Nun ist auch Israel kein Land ohne Spannungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung, auch bedingt durch unterschiedliche Herkunftskulturen. Wenn wir mal die gezielten Bösartigkeiten hierzulande beseite lassen: Was müssten wir als Bevölkerung lernen, um aus unseren Ängsten herauszufinden?

Sparr: Wir müssten den Reichtum anderer Kulturen zu schätzen lernen. Wir müssen uns selbst sehr klarmachen, dass sich diese Angriffe auf Menschen richten, die ein Teil unserer Gesellschaft sind und die wir noch enger an uns binden sollten. Wir müssten lernen, welchen Bedarf an Bevölkerungszuwachs in welchen Arbeitsfeldern wir haben. Da brauchen wir verlässliche Prognosen für die nächsten Jahrzehnte. Vor allem aber brauchen wir ein Zuwanderungsgesetz, das die Zuwanderung regelt. Weil ein solches Gesetz fehlt, erscheint sie uns so illegitim. Länder wie Kanada haben das mustergültig gelöst.

Wenn wir von der politischen zur literarischen Seite kommen: Die meisten Autorinnen und Autoren, die Sie auftreten lassen, leiden am Verlust einer Heimat und der Schwierigkeit, eine neue zu finden, teilweise auch am unwillkommen Sein, an Schuldgefühlen. Was kann diese Literatur uns zum Heute sagen?

Sparr: Ich glaube, sie kann etwas darüber sagen, dass Emigration beides ist. Sie ist Verlust und Gewinn. Diese Menschen haben in Israel eine neue Heimat gesucht. Manchmal haben sie eine gefunden, manchmal auch nicht. Der Verlust, die Vertreibung, die Verfolgung und die Ermordung der Angehörigen dieser Menschen – das ist etwas, das wir im Gedächtnis behalten sollten, wann immer es um Angriffe auf Immigranten in diesem Land geht.

Der Dichter Jehuda Amichai ist in Würzburg geboren, hat hier seine Kindheit verbracht. Er hat in beiden Welten weitergelebt – wie stark ist seine Bindung an Würzburg?

Sparr: Mann muss sagen, Jehuda Amichai kam in sehr jungen Jahren als Spross einer frommen jüdischen Familie von Würzburg nach Jerusalem. Er hat diese fränkischen Wurzeln tief in sich gespürt, und er hat später den ausgestreckten Arm aus Deutschland ergriffen und ist nach Würzburg gekommen. Er hat in seiner Mundart zwar das Fränkische weitergetragen, seine Weltdichtung aber auf Hebräisch geschrieben. Ich konnte noch mit ihm zusammenarbeiten. Er sprach ein wunderbares Deutsch, hat die Sprache meisterhaft beherrscht. Er ist wirklich eine singuläre Erscheinung der geglückten Ankunft und der vergewisserten Herkunft. Er hat Würzburg und Jerusalem wirklich nahe zusammengebracht, und in seinem Werk können wir dazu vieles finden.

Wenn Sie lesen, tun Sie das höchstwahrscheinlich vor einem interessierten, aufgeschlossenen Publikum. Manches aber lässt sich möglicherweise nicht auf der rein sprachlichen Ebene vermitteln.

Sparr: Ich glaube, das, was unser Vorstellungsvermögen nicht leisten kann, das wird die Musik, die in Würzburg zu hören sein wird, bewirken. Die Capella Antiqua aus Bamberg spielt auf alten Instrumenten sephardische Klänge, also die Musik der aus Spanien vertriebenen Juden. Dazu werde ich Gedichte von Amichai einflechten. Die Capella lässt uns neu hören, und wenn wir neu hören, werden wir neu sehen, werden wir neu lesen und werden wir neu wahrnehmen. Darauf können wir vertrauen und das traue ich der Kultur, der Literatur und vor allem der Musik zu.

Historische Klänge auf über 30 Instrumenten: die Capella Antiqua aus Bamberg
Foto: CAB-Artis - 2020 | Historische Klänge auf über 30 Instrumenten: die Capella Antiqua aus Bamberg

Thomas Sparr, Autor und Literaturwissenschaftler, war in den 1980er Jahren selbst in Jerusalem zu Hause und arbeitete am Leo Baeck Institut und der Hebräischen Universität. 1990 übernahm er die Leitung des Jüdischen Verlags und wurde später einer der Geschäftsführer des Suhrkamp Verlags, für den er heute als Editor-at-Large tätig ist.
Die musikalische Lesung "Grunewald im Orient" im Rahmen des Literaturfestivals MainLit findet am Montag, 2. März, 19.30 Uhr, in der Neubaukirche Würzburg statt. Karten: Tel. (0931) 6001 6000

 
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