
Nach dem "Aufbruch in die Moderne 1918" im Jahr 2018 lautet das Motto des Kissinger Sommers heuer "1762 – Nach der Natur gemalt". Das Festival setzt diesmal also sozusagen am anderen Ende seines traditionellen Kernrepertoires an, das weiterhin vor allem im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Ausgangspunkt, wenn man so will, ist diesmal die Zwischenphase zwischen Barock und Klassik, zwischen absolutistischer Spätzeit und Revolution. Im Gespräch erläutert Intendant Tilman Schlömp den Gestaltungsansatz des Kissinger Sommers 2019, der vom 14. Juni bis 14. Juli stattfindet.

Frage: Das Motto des Kissinger Sommers lautet "1762 – Nach der Natur gemalt". Was bedeutet das für die Musik des Festivals?
Tilman Schlömp: Es gibt im 18. Jahrhundert sehr viele Werke, in denen eine neue Emotionalität auftaucht. Wo etwa ein Carl Philipp Emanuel Bach seine persönlichen Befindlichkeiten in Musik setzt. Oder wo die richtigen, echten Gefühle zweier Figuren Eingang in eine Oper finden, nämlich die von Orpheus und Eurydike bei Gluck. Es ist ein Zwischenbereich zwischen der Strenge des Barock und den Bewegungen, die schließlich zur französischen Revolution geführt haben. Da ist dann der Wille des Individuums herausgebrochen und hat sogar das politische System verändert.
Welche Rolle hat dabei die Kunst gespielt?
Schlömp: Sie hat geholfen, das vorzubereiten. Wir zeigen Werke, die mit dieser Zeit verbunden sind. Dazu gehört "Orpheus und Eurydike", also die Oper, die 1762 in Wien eingeschlagen ist wie ein Komet. Wir bringen davon eine leicht modifizierte Fassung, Damian Scholl, ein junger Komponist, macht für uns dazu moderne Zwischenspiele, Reflexionen, in denen Orpheus über seine Gefühle nachdenkt.
Es geht in dieser Zeit ja auch um eine neue Sicht auf die Natur. Wie kann Musik, wenn sie nicht gerade Naturlaute imitiert, dies wiedergeben?
Schlömp: Man muss das im Vergleich zu früher sehen, als in der barocken Musik strenge Regeln herrschten – Kontrapunkt, Generalbass, wo harmonische Fortschreitungen sehr genau vorgegeben waren. Jetzt auf einmal beginnt man, sich gegen diese Regeln aufzulehnen. Individualität findet Eingang in die Musik, und das passiert vor allem melodisch. Dass einzelne Instrumente hervortreten, dass ein Sänger seine Gefühle viel subjektiver und natürlicher darstellt und das nicht in genau niedergelegten Verzierungen, sondern sehr eng an der Sprache.

Zwei Programme des Kissinger Sommers binden auch die Literatur ein – was hat es damit auf sich?
Schlömp: Das Programm mit Udo Samel präsentiert den Roman "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman" von Laurence Sterne. Der ist mit der Zeit um 1762 ganz eng verbunden. Damals entstand erst ein literarisches Leben, wie wir es uns heute vorstellen, das Buch ist einer der ersten Romane überhaupt. Der "Tristram Shandy" hat damals alle Bestsellerlisten gestürmt, würde man heute sagen. Die Geschichte wird im Plauderton vorgetragen, hat aber en passant, unter der Oberfläche, sehr viele Anspielungen auf die damaligen Verhältnisse. Es ist ein sehr moderner Roman, dessen viele Abschweifungen im Ganzen das Gesellschaftsbild der Zeit ergeben. Und der im Grunde schon auf den viel späteren "Ulysses" von James Joyce verweist.
Wie sieht die Verbindung zur Musik aus?
Schlömp: Wir haben das unter anderem kombiniert mit Haydn-Trios, gespielt vom Amatis-Trio, einem ganz fantastischen jungen Ensemble. Das Schöne ist, dass wir ganz viel Zeit hatten, den Abend zusammen mit Udo Samel zu entwickeln. Er hat sich mit den Künstlern unterhalten, hat sich alle Musikstücke angehört und sich dazu Übergänge ausgedacht. Dadurch ist das ein sehr eng verzahntes Programm geworden und eine echte Premiere beim Kissinger Sommer, eine eigene Schöpfung, die zum ersten Mal bei uns erklingt. Es ist einer der seltenen Glücksfälle, wo man so ein Programm machen kann.
Ulrich Tukur wird aus "Moby Dick" lesen, der vielen eher als Abenteuerroman bekannt ist. Wobei die Begegnung zwischen Mensch und Natur als Motiv nicht zu übersehen ist.
Schlömp: Wir wollten ein Werk einbeziehen, das eine gewisse Relevanz für uns heute hat. Heute wird sehr viel über Raubbau an der Natur diskutiert, über den Klimawandel. Jeden Tag steht etwas über Feinstaub oder CO2-Belastung in der Zeitung. Das hängt ja alles damit zusammen, dass man über Jahrzehnte Entwicklungen verschlafen hat. Es war sehr bequem, Geld zu kassieren und sich über die Folgen keine Gedanken zu machen. Im Kern ist das ja auch die Handlung von "Moby Dick". Moby Dick ist ein idealisiertes Zauberwesen, eine Verkörperung der Natur. Und alle anderen jagen hinter ihm her, alle aus eigennützigen Motiven. Da gibt es den Kapitän Ahab, für den das ein persönlicher Rachefeldzug ist. Dann gibt es die Schiffseigner, für die das alles eine Geldmaschine ist. Dann gibt es den Erzähler, für den es ein Abenteuer ist. Und dann gibt es den Indianer Queequeg, der vorgeblich der Wilde ist, in Wirklichkeit aber den wahren, empathischen Menschen verkörpert. Ihm wird ein Satz in den Mund gelegt, der für uns direkte Relevanz hat: "Die Welt ist eine Gesellschaft auf Gegenseitigkeit mit unbeschränkter Haftung und zwar in allen Breiten." Das heißt, alle Länder haften füreinander gegenseitig.
Eine sehr moderne Sichtweise.
Schlömp: Ja, genau das zeigt uns ja heute die Natur, etwa mit der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Alles, was wir tun, hat globale Auswirkungen, und das verstehen wir tatsächlich erst heutzutage. Das war ein Grund, das Programm zu machen. Der andere war, dass der Pianist, Sebastian Knauer, mich angerufen und von dem Projekt erzählt hat. Es war das letzte Projekt, an dem sein Vater Wolfgang Knauer arbeitete, bevor er starb. Sebastian macht seit Jahren solche Rezitationskonzerte, und sein Vater, er war Redakteur beim NDR, hat für ihn ganz wunderbare Texte zusammengestellt. So ist "Moby Dick" jetzt ein Konzert in memoriam Wolfgang Knauer geworden.