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Sommerhausen
Torturmtheater: Verrückt ist nicht bescheuert!
Isabel Kott erweckt in Sommerhausen Wolfgang Herrndorfs 14-jährige Streunerin Isa zum Leben. Vollkommen ohne Selbstmitleid, dafür mit einiger Komik und sehr viel Poesie.
Isabel Kott spielt im Torturmtheater die aus dem Leben gepurzelte Streunerin Isa.
Foto: THOMAS OBERMEIER | Isabel Kott spielt im Torturmtheater die aus dem Leben gepurzelte Streunerin Isa.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 27.04.2023 08:06 Uhr

Was macht einer, dessen Tage gezählt sind? Der den Tod vor Augen hat? Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ("Tschick"), unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt, arbeitete weiter. Begann den Blog "Arbeit und Struktur" und einen neuen Roman. Und schuf so in den drei Jahren vor seinem Freitod im August 2013 zwei seiner vielleicht wichtigsten Werke. Ursprünglich hatte Herrndorf verfügt, dass alle nachgelassenen Fragmente zerstört werden müssten, kurz vor seinem Tod allerdings widerrief er diese Anordnung.

Das Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe" ist also glücklicherweise erhalten geblieben. Mit der dramatisierten Fassung in der Regie von Eos Schopohl hat das Torturmtheater Sommerhausen nun seine Saison eröffnet. Es ist Isas Geschichte. Die Isa, die in "Tschick" Maik und Tschick begegnet und sie ein kurzes Stück auf deren Irrfahrt in die Wallachei begleitet.

Verrückt ist nicht bescheuert, das verwechseln die Leute immer

Wie alle wichtigen Figuren Herrndorfs umgibt auch Isa diese schwer zu erklärende Aura, ein aus sich heraus wirkendes Charisma, das viel damit zu tun hat, wie diese Figuren die Welt wahrnehmen und wie sie diese Wahrnehmungen in Worte fassen. Isa ist 14, aus dem Heim abgehauen und offenbar verrückt. Nicht bescheuert, darauf legt sie Wert, das verwechseln die Leute immer: verrückt ist nicht bescheuert!

Kein Warmlaufen, kein Reinfinden, kein Antesten. Isabel Kott purzelt auf die Bühne, wie ihre Figur Isa ins Leben gepurzelt ist.
Foto: THOMAS OBERMEIER | Kein Warmlaufen, kein Reinfinden, kein Antesten. Isabel Kott purzelt auf die Bühne, wie ihre Figur Isa ins Leben gepurzelt ist.

Das große Glück dieser Inszenierung ist der Dreiklang aus Text, Regie und Darstellerin: Isabel Kott, geboren 1985, ist vom ersten Moment an Isa. Kein Warmlaufen, kein Reinfinden, kein Antesten. Isa purzelt auf die Bühne, wie sie ins Leben gepurzelt ist und irgendwie auch aus dem Leben heraus. Zumindest aus dem Leben der anderen, der Normalen.

Der Raum ist weiß tapeziert (Ausstattung: Angelika Relin), einzige Requisiten sind sechs Autoreifen und eine große Plastikfolie. Isa wandert in der Nacht und schläft am Tag. Sie durchwühlt Müllhalden, bricht in Läden ein, hungert, friert, leidet. Und sinniert. Hin und wieder unterbrechen oder befeuern Stimmen aus dem Off ihren Monolog. 

Isabel Kott könnte im Abendkleid spielen und wäre doch die unbehauste Streunerin

Nicht immer (eher selten sogar) bekommt der Theaterbesucher das große Geschenk des Vergessens gemacht. Des Vergessens, dass da vorn jemand jemand anderen spielt. Isabel Kott ist in der Lage, dieses Geschenk zu machen. In verbeulter Jogginghose und  speckigem Hoodie ist sie nicht übermäßig deutlich als verwahrloste Streunerin gekennzeichnet. Sie könnte auch im Abendkleid spielen und wäre doch die unbehauste Lisa.

Eos Schopohl hat den etwa 70-minütigen Text so kunstvoll rhythmisiert, die metaphorischen Gesten so natürlich choreografiert, dass die kleine Box der Bühne sich augenblicklich zum Sternenhimmel weitet. Vor der Kulisse des Universums also denkt Isa über das Leben nach. Fragt sich, ob es hinterher überhaupt einen Unterschied macht, ob einer 70 Jahre früher oder später stirbt.

Und wirft sich und uns immer wieder zurück auf die Frage, was zählt. Da ist nichts Altkluges, nichts Gekünsteltes, nichts Konstruiertes. Da sind nur echte, anrührende Verletzlichkeit und tiefe Sehnsucht: "Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich." Da sind ein beschämender Mangel an Selbstmitleid und ein trockener Humor, der sich fatalistisch gibt und doch zutiefst humanistisch ist. So entstehen immer neue Momente der Komik und der Poesie. Einer Poesie des Augenblicks, die nicht das geringste bisschen Energie auf ein "Verweile doch..." verschwendet. Wahrscheinlich hat das Leben – im Ganzen gesehen – nicht mehr zu bieten. Aber eben auch nicht weniger.

Auf dem Spielplan bis 25. Mai. Kasse und Telefon sind von Dienstag bis Samstag ab 16 Uhr besetzt. Tel. (09333) 268. Gespielt wird Dienstag bis Freitag, 20 Uhr, am Samstag 16.30 und 19 Uhr. Mail: kartenbestellung@torturmtheater.de

 
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