Im 18. Jahrhundert wurden 10.000 Sinfonien komponiert. Ein Bruchteil dieser Menge hat die Zeit überdauert und wird heute noch gespielt. Darunter die Sinfonien von Joseph Haydn, die frühen von Beethoven und natürlich die von Wolfgang Amadé Mozart. Warum das so ist, lässt sich erklären. Und zwar ganz ohne diffuse Hinweise auf Genialität oder gar göttliche Eingebung.
Das Motto des diesjährigen Würzburger Mozartfests lautet "speculire – studiere – überlege" und meint genau das: Eine Annäherung an das Werk des Namensgebers mit beispielhaften Konzertprogrammen, mit Forschung und Analyse. Für letztere steht der Musikforscher Prof. Ulrich Konrad, bis vor kurzem Ordinarius an der Universität Würzburg, jetzt Senior-Professor, weiterhin Vorsitzender des Mozartfest-Kuratoriums und nicht zuletzt gefragter Musik-Erklärer.
Weg mit den Legenden, die Mozart zum Werkzeug höherer Mächte verklären
Konrad kann veranschaulichen, wie Musik gemacht wird, und kommt dabei fast ganz ohne Fachausdrücke aus. Zum Beispiel beim Mozartfest-Gesprächsformat "Allzeit..." in der wie immer vollbesetzen Vinothek des Staatlichen Hofkellers. Plakativ könnte man den Abend überschreiben mit "Die Wahrheit über das angeblich göttliche Genie Mozart".
Konrad kreist sein Thema systematisch ein und räumt dabei Stück für Stück auf mit all den Legenden, die Mozart zum Werkzeug höherer Mächte verklären. Dass ihn ein "dämonischer Geist in seiner Gewalt" hatte und er das "ausführen musste, was dieser Geist gebot". Ein bequemer Ansatz übrigens, sagt Konrad: "Dann musste man sich nicht näher mit dem Unerklärlichen befassen."
So unerklärlich Mozarts Begabung bleibt, so erklärbar ist, wie er sie einsetzte. Das phänomenale Gedächtnis zum Beispiel. "Die Noten schreibende Hand ist immer viel langsamer als die Musik im Kopf", sagt Ulrich Konrad. "Der Komponist muss sich also sehr gut erinnern können, was er aufschreiben will." Denn Musik unterscheide sich in einem wesentlichen Punkt von anderen Künsten wie Dichtung oder Malerei. Das, was zu Papier gebracht wird, ist nicht das Kunstwerk selbst, sondern nur eine grafische Abstraktion desselben. "Eine Vorschrift, die Musiker anhält, das Geschriebene in Klang zu übersetzen."
Musik friste deshalb "eine faszinierende Doppelexistenz", sagt Konrad: "Sie ist schriftlich gebunden, aber wir hören sie nicht. Und wenn wir sie hören, sehen wir nichts. Wo ist die Jupiter-Sinfonie, wenn wir sie gehört haben? Wo ist sie hin?"
Ulrich Konrad unterscheidet zwischen Komponisten und "Leuten, die komponieren"
Wolfgang Amadé Mozart hatte ein außergewöhnliches Talent, "Klangverläufe zu imaginieren". Anders gesagt: "Einen Ton festlegen, kann jeder. Mit dem zweiten Ton geht's los. Da müssen Sie Entscheidungen treffen", sagt der Musikforscher. Musik bestehe immer aus horizontalen und vertikalen Strukturen. Also dem Zusammenklang der Töne einerseits und der zeitlichen und rhythmischen Abfolge derselben andererseits. Nicht zu reden von Fragen der Dynamik, also von laut und leise.
Aus der Entscheidung über einen zweiten, dritten oder vierten Ton wird also sehr schnell ein ungeheuer komplexes Gebilde, das mit Pünktchen, Fähnchen, Strichen und Balken festgehalten werden muss. "Da kann man natürlich auch den größten Unfug aufschreiben", sagt Konrad, der zwischen Komponisten und "Leuten, die komponieren" unterscheidet. Sehr viele von ersteren gab und gibt es nicht auf der Welt. "Das ist eine sehr spezielle Begabung. Ich, der ich mich mein ganzes Berufsleben damit befassen durfte, kenne vielleicht 300 Komponisten, Sie vielleicht 50", sagt er zu einem erkennbar beeindruckten Publikum.
Allmählich wird klarer, warum es so viel einfacher ist, das Phänomen Mozart als Werk göttlicher Mächte abzutun. Dabei kann man ihm direkt in die Werkstatt schauen. Zum Beispiel mit den Skizzenblättern, auf denen er ausprobierte, wie ein Stück weitergehen könnte. Etwa die Prager Sinfonie KV 504.
Mozart muss Unmengen solcher Skizzenblätter vollgeschrieben haben, leider hat er die meisten achtlos weggeworfen, sobald ein Werk vollendet war. Ulrich Konrad hat die erhaltenen Skizzen, die heute Hunderttausende pro Blatt wert sind, in der ganzen Welt zusammengetragen und ein Buch darüber geschrieben. "Deshalb kenne ich mich ein bisschen damit aus", sagt er.
Zurück zur Prager Sinfonie. Anhand ausgeteilter Noten und Klangbeispielen erläutert der Musikforscher auch für Laien vollkommen nachvollziehbar, wie Mozart im Kopfsatz steckenblieb, wie er verschiedene Fortgänge ausprobierte, verwarf, neu ansetzte. Und wie er schließlich zu der Lösung fand, die bis heute in den Konzertsälen gespielt wird. Das Faszinierende: Mozart wird dadurch kein bisschen entzaubert. Im Gegenteil.