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WÜRZBURG
Mit Mimi und Rodolfo durch ein ganzes Leben
Der eiserne Vorhang als Projektionsfläche des Lebens: Mimi (Silke Evers), Rodolfo (Roberto Ortiz), Musetta (Akiho Tsujii) und Marcello (Daniel Fiolka).
Foto: Thomas Obermeier | Der eiserne Vorhang als Projektionsfläche des Lebens: Mimi (Silke Evers), Rodolfo (Roberto Ortiz), Musetta (Akiho Tsujii) und Marcello (Daniel Fiolka).
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:39 Uhr

Einen kleinen Schreckmoment gibt es, ganz am Anfang. Als Rodolfo seine ersten Zeilen singt, oben rechts in seiner Ruinenbude. Es ist Roberto Ortiz' Rollendebüt in Giacomo Puccinis Belcanto-Hit „La Boheme“ am Mainfranken Theater, und in diesen ersten Passagen klingt er eher verhalten. Doch der Schreck ist schnell überwunden – das ansonsten wunderbare Bühnenbild von Émilie Delanne hat an dieser Stelle einen akustischen blinden Fleck. Viel mehr wird sich dort nicht abspielen, das liegt schon daran, dass Martina Veh in ihrer zweiten Würzburger Inszenierung nach „Cosi fan tutte“ die Figuren immer so postiert beziehungsweise bewegt, dass sie bis in die kleinste Geste optimal wahrgenommen werden.

Fotoserie

Wie sich Mimi und Rodolfo im ersten Bild finden, das ist ein Traum an frühverliebter Aufgeregtheit, Zärtlichkeit und schließlich überbordendem Glück. Anrührend gespielt, wunderbar differenziert gesungen – eine Sprezzatura (laut Lexikon die „Fähigkeit, auch anstrengende Taten leicht und mühelos erscheinen zu lassen“), die ganz ohne opernhafte Großspurigkeit auskommt.

Das Ensemble agiert einmal mehr in beglückender Homogenität

Roberto Ortiz kann Belcanto – ebenso wie Silke Evers, die hier als Mimi ebenfalls debütiert. Ebenso wie der Rest des Ensembles, das hier – genau wie bei „Cosi“ – einmal mehr in beglückender Homogenität agiert und zum Schluss denn auch als eingeschworene Gemeinschaft bejubelt wird. Akiho Tsujii als durchtriebene Musetta zeigt, dass sie weit mehr kann als Soubrette. Daniel Fiolka als Marcello zeigt, dass ihm die intimen Momente ebenso liegen wie die komischen. Kosma Ranuer (Schaunard, alternierend mit Taiyu Uchiyama) und Igor Tsarkov (Colline) vervollständigen ein Sextett, das – genialer Kunstgriff der Regie – von Bild zu Bild um je 15 Jahre altert.

Wir begleiten die Heldinnen und Helden durch ein ganzes Leben, ausgehend vom Jahr 1968 bis in die Gegenwart. Was schon deshalb schlüssig ist, weil in den späten Sechzigern (medizinische Versorgung vorausgesetzt) niemand mehr – wie zu Puccinis Zeiten – binnen Monaten an der Schwindsucht sterben würde. So stirbt Mimi im Altersheim, das alle Sechs offenbar gemeinsam bewohnen (die Assoziation an die gemeinsame Grabstätte der Band Die Toten Hosen drängt sich auf) – alle zittrig und gebrechlich, manche schon etwas wirr im Kopf.

Walkman und Moonboots in der Shopping Mall der 1980er

Mimi und Rodolfo haben also ihr Leben gemeinsam verbracht. Das stellt die ursprüngliche Dramaturgie einerseits auf den Kopf, eröffnet andererseits vollkommen neue Optionen. So kann Martina Veh echte Beziehungen aufbauen, und so bekommen Rodolfos Verlustängste aus dem zweiten Bild ganz andere Plausibilität. Rodolfo ist ein Leben lang nicht mit Mimis Krankheit klargekommen, als sie stirbt wendet er ihr in jahrzehntelang eingeübter Verdrängung den Rücken zu. Im letzten Moment kehrt Veh das fragile Glück eines langen gemeinsamen Lebens in ein Ende, das beinahe noch tragischer wirkt als die originale Version.

Der Weg dorthin ist eine Folge großartiger Szenen. Etwa das vorweihnachtliche Konsumgewusel in der Shopping Mall der 80er, inklusive Walkman, Vokuhila-Frisuren, Moonboots und Neonleggings (Kostüme: Magali Gerberon). In dem Chor und Extrachor (Einstudierung: Anton Tremmel) sich einmal mehr mit großer Spiellust ins Geschehen werfen. Und in dem Musetta und Marcello coram publico ihre Hassliebe zelebrieren, was für Musettas rüde abservierten Lebensabschnittsgefährten Alcindoro (Tobias Germeshausen) ziemlich schmerzhaft endet.

Das Orchester steuert all die Farben bei, die Puccinis Lautmalerei braucht

Im dritten Bild ist dann die Gentrifizierung in vollem Gange – Marcello malt die Schilder, die zu bauende Luxusappartements anpreisen. Das Bild endet vor dem eisernen Vorhang, der sich in den Umbaupausen als ideale Projektionsfläche für Videos der beiden alternden Paare in extremer Zeitlupe entpuppt. So nah kommt der Zuschauer den Personen selten, noch seltener fühlt er sich ihnen so verbunden.

Das Philharmonische Orchester steuert unter der Leitung von Enrico Calesso all die Farben, Stimmungen und Lichtwechsel bei, die Puccinis Lautmalerei braucht – herrlich griffig, süffig, rund und gelegentlich auch grell. Viele Ohrwürmer, viele Bravi, viele Vorhänge.

Die weiteren Vorstellungen: 26., 28. Oktober, 4., 9., 17. November, 5., 19., 23.12., 25. Dezember, 10., 12. Januar, 5., 27. Ferbuar (19.30), 21. Oktober (15 Uhr), Karten: Tel. (09 31) 39 08-124 oder karten@mainfrankentheater.de

Noch scheint alles möglich: Igor Tsarkov (Colline), Roberto Ortiz (Rodolfo), Silke Evers (Mimi) und Daniel Fiolka (Marcello, vorne von links).
Foto: Thomas Obermeier | Noch scheint alles möglich: Igor Tsarkov (Colline), Roberto Ortiz (Rodolfo), Silke Evers (Mimi) und Daniel Fiolka (Marcello, vorne von links).
 
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