Pianist, Dirigent, Philosoph, Fußballfan, Verdifan, Wagnerfan – Enrico Calesso, Generalmusikdirektor (GMD) des Würzburger Mainfranken Theaters, hat viele Seiten. Kein Wunder für einen, der in vielen musikalischen Welten gleichermaßen zu Hause ist. Ein Gespräch über die Gefühle des Trainers am Spielfeldrand, über die Fährnisse der Akustik und die Magie eines Pizzicatos im legendären Teatro La Fenice in Venedig.
Frage: Sie dirigieren „La Traviata“ in Florenz – als Juve-Fan könnte das gefährlich werden. Jedenfalls sollten Sie nichts Schwarz/Weißes tragen, oder?
Enrico Calesso: (lacht) Noch schlimmer, man könnte mich für einen Siena-Fan halten. Siena ist auch schwarz/weiß. Aber es gibt tatsächlich einen großen Juventus-Hass in Florenz. Kennen Sie noch Roberto Baggio? Als der von Florenz zu Juventus Turin ging, gab es Revolution. Das war heftig.
Haben Sie als Fußballfan bei der WM mitgefiebert?
Calesso: Italien war ja raus . . . Aber ich habe schon mit Deutschland mitgefiebert. Ich habe auch keine richtige Erklärung für das Ausscheiden. Aber eine Sache habe ich mir überlegt, sie würde erklären, dass viele europäische Topspieler wie etwa Ronaldo unter ihren Möglichkeiten geblieben sind: Sie sind im Champions-League-Modus fast darauf programmiert, um 21 Uhr fit zu sein. Und bei der WM haben sie nie um diese Uhrzeit gespielt. Ich merke das auch bei mir: Bei Vorstellungen um 15 Uhr komme ich nur schwer in Gang. Ich glaube, Körper und Psyche stellen sich durch den Betrieb auf einen bestimmten Biorhythmus ein.
Gibt es weitere Parallelen zum Musikleben?
Calesso: Natürlich. Das ganze Feld, das auch eine Fußballmannschaft betrifft – handwerkliches Können, Motivation, Einigkeit –, all das lässt sich aufs Orchester anwenden. Dass man gemeinsam ein Ziel hat, und dass man Differenzen als Ressource sieht, dieses Ziel zu erreichen. Der Probenprozess ist nichts anderes als Training. Allerdings mache ich nicht die Aufstellung, da haben die Kulturorchester andere Regeln, über die ich sehr froh bin. Ich sage am Abend nicht, du spielst, und du spielst nicht. Manchmal frage ich mich, wie schafft ein Trainer das? Trotzdem erlaube ich mir, bei wichtigen Projekten ein Wort mitzureden: Dass wir alle Stimmführer da haben. Aber das geht fast automatisch.
Und die Unterschiede?
Calesso: Der größte Unterschied ist, dass im Konzert der Dirigent auch Spieler ist, obwohl er kein Instrument hat. Der Dirigent ist ein Spielmacher, der zwar den Ball nicht am Fuß hat, aber der Ball läuft nicht, wenn er nicht das Spiel macht.
Manchmal müssen Sie die Spieler aber auch einfach spielen lassen. Etwa zu Beginn von Schuberts C-Dur-Sinfonie, oder zu Mahlers Fünfter. Fällt das manchmal schwer?
Calesso: Nein – wenn man gut geprobt hat, dann muss das im Konzert stattfinden. Je mehr ich mich in den Beruf vertiefe, desto komplexer wird er für mich. Dabei kristallisiert sich eine Frage immer mehr heraus: Wo lasse ist es geschehen, und wo brauchen die Musiker mich zwingend? Das hat nicht nur mit Händen und Augen zu tun – irgendwie entsteht im besten Fall auch eine geistige Ganzheit, dann weiß der Musiker, er ist komplett frei, obwohl man sich natürlich vorher vereinbart hat. Ganz oft ist die große Kunst, nicht zu stören. Am Anfang habe ich immer gedacht, ich bin für alles verantwortlich, aber das stimmt nicht.
Es gibt verschiedene Dirigententypen – wo würden Sie sich zwischen den Typen Dompteur und Partner einordnen?
Calesso: Das ist schwer zu beantworten. Nehmen Sie zum Beispiel „Nixon in China“ – da liegt die Aufgabe lediglich darin, dass man einen Abend lang die Kontrolle behält. Da gibt es nicht viel Raum für Raum lassen. Aber das ist die Musik, die das verlangt. Die ist rhythmisch so schwer, dass man sich bei anderen Aspekten wie etwa Dynamik komplett auf Musiker und Sänger verlassen muss. Das ist am meisten mit der Trainer-Situation vergleichbar.
Gibt es Musik, wo es umgekehrt ist?
Calesso: Nehmen wir das italienische Repertoire. Da habe ich nicht mal den Bedarf zu denken, das ist irgendwie drinnen. Da ist Raum für Spontaneität. Für mich ist es sehr wichtig, an meiner eigenen Disziplin zu arbeiten. Trotzdem ist es schade, und das beobachte ich bei sehr analytischen Dirigenten, wenn dann am Abend nichts mehr passiert. Unsere Aufgabe ist es, eine geistige Energie zu liefern, die die Verantwortung für Interpretation und Komponist trägt, aber auch die Verantwortung für den Moment, wo das erlebt wird. Was bedeutet ein museales Stück wie „Cosi fan tutte“ heute für uns? Das hat sehr viel mit der Energie zu tun, die am Abend durch den Dirigenten läuft.
Mussten Sie schon mal eine Inszenierung dirigieren, mit der Sie gar nichts anfangen konnten?
Calesso: Zu diesem Punkt bin ich tatsächlich noch nicht gekommen. Wenn ich Zweifel hatte, konnte ich die bei den Proben oder sogar schon bei der Konzeption besprechen. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, wo gar nichts mehr ging. Ich habe selbst bei Regisseuren, vor denen man mich gewarnt hatte, die Erfahrung gemacht, wenn man sie korrekt anspricht und ihr Konzept ernst nimmt, dann findet man immer eine Lösung, mit der alle zufrieden sind. Manches würde man vielleicht anders denken, aber wenn mich eine Idee überzeugt, dann versuche ich, die auch zu realisieren.
Man erlebt als Zuhörer ja oft Regielösungen, die von der Musik oder vom Libretto nicht gedeckt sind.
Calesso: Leider muss ich sagen, dass viele Kollegen, leider auch junge, die mit Regie ein Problem haben, nicht gut genug vorbereitet sind. Man kann nicht einfach nur sagen, der Sänger ist falsch platziert, man wird ihn nicht hören. Damit hat man kein Problem gelöst, sondern nur eine Diagnose gestellt. Aber wenn man dem Regisseur erklärt, ja, ich habe deine Idee verstanden, aber sie bringt mich in Schwierigkeiten, und ich glaube, du könntest sie so oder so anders realisieren – das funktioniert immer. Aber dafür muss man sich wirklich für das interessieren, was der Regisseur will.
Was ist aus Ihrer Sicht wichtig bei einer Inszenierung?
Calesso: Ganz oft sind Regisseure von meinen Fragen überrascht. Zum Beispiel zur Gestaltung von Fermaten oder Übergängen. Übergänge sind für mich das Wichtigste bei einer Oper, und ich bin froh, wenn man mir hinterher sagt, ja, das hat alles gestimmt. Aber es gibt Kollegen, die sich dafür gar nicht interessieren. Wichtig ist auch, dass das Bühnenbild stimmt, und zwar akustisch. Vor allem für das Wohlbefinden der Sänger. Die sollen nicht die ganze Zeit überlegen: Bin ich überhaupt zu hören? Wenn das nicht passt, ist es nicht mehr gutzumachen. Deshalb stimmen wir uns hier im Haus mittlerweile immer vorher ab. Unsere Akustik ist ohnehin wirklich schlecht, für die Sänger eine große Einschränkung. Wir werden da bei der Sanierung drangehen.
Die Akustik im Graben scheint auch nicht besonders hilfreich.
Calesso: Das sehen Sie richtig, der Graben ist gar nicht optimal. Selbst die Musiker, die den Graben seit Jahren kennen, müssen sich jedes Mal neu einfinden. Gottseidank hat man mich verstanden und meine Argumente gehört – auch das wird bei der Sanierung verbessert. Darüber freue ich mich sehr. Das war zunächst in der Machbarkeitsstudie abgelehnt worden. Wenn ich dagegen an die Oper La Fenice in Venedig denke – eine der besten Akustiken, die ich je gehört habe. Da müssen die Musiker nur ganz leicht ansetzen, zum Beispiel ein Bass-Pizzicato in der „Traviata“, und Plummmm – als säße man in einem Aston Martin, aber keine Sport-Ausstattung, sondern Touring-Ausstattung.
Sie dirigieren in Deutschland, Italien, Österreich, Frankreich. Sind das, musikalisch gesprochen, sehr unterschiedliche Welten?
Calesso: Es wird immer öfter bedauert, dass auch beim Klang eine gewisse Globalisierung stattfindet, das liegt an den Aufnahmetechniken und an der Mobilität und Flexibilität der Künstler. Selbst die Instrumentenbauer haben sich angeglichen. Dadurch geht immer mehr typischer Klang verloren. Aber noch hört man Unterschiede: So wird Verdi in Deutschland immer noch anders gespielt als in Italien.
Wo sind die Unterschiede – klischeehaft gesprochen?
Calesso: In Deutschland – das ist jetzt wirklich ein Klischee – wird Verdi auch in seinen ernsten Opern mit italienischem Idiom gespielt, also mit spritziger Phrasierung und scharfen Einsätzen. In Italien bin ich immer wieder überrascht, wie sehr dort Wert darauf gelegt wird, dass Verdi sinfonisch klingt, also viel runder, etwa mit weichem Blech. Viele, auch sehr ernste oder innige Szenen und Arien stehen ja im Dreivierteltakt, und es ist in Italien eine hohe Kunst, wie man mit diesem Material umgeht. Das ist eben nicht immer alles Umm–Za–Za. Die Wahrnehmung in Deutschland ist ein bisschen standardisierter. Da fehlt mitunter die Flexibilität. Deshalb bin ich so glücklich in Würzburg zu sein: Das Orchester ist fähig, ungemein flexibel zu spielen.
Sind die Arbeitsweisen unterschiedlich?
Calesso: Es gibt Unterschiede von Orchester zu Orchester, aber auch Unterschiede zwischen Deutschland und Italien. Etwa, wie man die Arbeit sieht, wie die Proben zu laufen haben. In Italien gibt es genauso viel Disziplin wie in Deutschland, aber die läuft anders. Manches sieht nach außen vielleicht schlampiger aus, aber es ist nur anders organisiert.
Das ist für die Deutschen schwer zu verstehen – da gibt es Ordnung oder nicht Ordnung. Aber nichts dazwischen.
Calesso: Das sagen jetzt Sie. Wenn ich in Italien mit einer Behörde zu tun habe, wünsche ich mich sofort zurück nach Deutschland. Ich halte mein eigenes Land in Sachen Behörden nicht mehr aus, das ist leider so. Beruflich und künstlerisch sieht es für mich ganz anders aus: Es gibt Orchester – die Scala, Santa Cecilia oder eben auch Maggio Musicale Fiorentino und Orchestra del Teatro La Fenice in Venedig –, die spielen auf höchstem Niveau. Das heißt, die Ergebnisse kommen.
Von Verdi zu Wagner: In der nächsten Saison kommt „Götterdämmerung“.
Calesso: Ja, ich freue mich sehr!
Nachdem Sie damals zu Ihrem Einstand als GMD gleich den „Tristan“ dirigiert haben, kann Sie das nicht schrecken, oder?
Calesso: Das ist tatsächlich so. Wenn man den „Tristan“ gelöst hat – und scheinbar ist mir das gelungen, aus Gründen, die ich noch nicht weiß –, dann kann man so eine Aufgabe mit Freude angehen. Wie soll ich sagen: Ich fühle mich wohl, wenn ich Wagner dirigiere. Ich wusste damals kaum ein Jahr vor dem szenischen Probenbeginn, dass ich einen „Tristan“ bewältigen musste. Das ist brutal. Natürlich kennt man das Stück als Repetitor, aber das ist eine völlig andere Sache. Da hat mir damals der Würzburger Professor für Musikwissenschaft Ulrich Konrad sehr geholfen. Ich hatte großes Glück, er hat gerade in dieser Zeit das Autograf für dem Schott-Verlag bearbeitet. Ich habe von seiner wissenschaftlichen Arbeit sehr profitiert. Außerdem hat mir eine große Unbekümmertheit geholfen – die hätte ich heute nicht mehr.
Zur Person
Enrico Calesso wurde 1974 in Treviso (Italien) geboren und studierte Klavier und Philosophie in Venedig. Anschließend besuchte er die Dirigierklasse von Uroš Lajovic an der Universität Wien. Ab 2008 war er drei Jahre musikalischer Leiter der Oper Klosterneuburg (bei Wien) und von 2007 bis 2010 Kapellmeister am Theater Erfurt. 2010 wechselte er als Erster Kapellmeister an das Mainfranken Theater Würzburg. Im Jahr darauf wurde er dort zum Generalmusikdirektor ernannt.
Enrico Calesso ist als Gastdirigent in Deutschland, Italien, Frankreich und Polen tätig, seit der Spielzeit 2015/16 gastiert er regelmäßig am Teatro La Fenice, zuletzt für die Neuproduktion von „La Traviata“. In der vergangenen Spielzeit zeichnete er für die musikalische Leitung der neuen Produktion von „Don Giovanni“ am Landestheater Linz verantwortlich. 2019 steht das Debüt mit dem Gewandhaus Orchester an der Oper Leipzig für die Produktion von „La Traviata“ an. maw