Ein kleines Stück in einem kleinen Theater. Und eine große Frage: Wozu ist der Mensch da?
Oder: Was bleibt, wenn Maschinen alles besser können als der Mensch?
Oder: Gibt es vielleicht doch etwas, was der Mensch besser kann als die Maschine? Und was wäre das dann?
Philipp Löhles Farce "Die Mitwisser" trägt den Untertitel "Eine Idiotie". Regisseur Ercan Karacayli nimmt ihn wörtlich und hat daraus für das Torturmtheater Sommerhausen eine turbulente kleine Klamotte gemacht, in der chargiert werden darf und soll, was das Zeug hält. Die großen Menschheitsfragen stellt das 2018 uraufgeführte Stück so natürlich nicht. Sie bleiben sozusagen übrig, nachdem das Geschrei und das Gezappel vorüber sind.
Gnadenlose Gags auf der Bühne, offene Grundsatzfragen beim Zuschauer
Ein interessanter Effekt übrigens: Gnadenlose Gags auf der Bühne, offene Grundsatzfragen beim Zuschauer hinterher. Klingt verdächtig nach Shakespeare, lustigerweise beginnt das Stück mit einem Zitat aus Richard III.: "Nun ward der Winter unseres Missvergnügens ..." Die Frage ins Publikum, ob jemand das erkenne, kontert ein Besucher in der ersten Reihe bei der Premiere schlagfertig: "Nein, das kenne ich nur auf Englisch."
Gestellt hat die Frage Herr Kwant. Der sieht aus wie ein Mensch, ist aber eine Maschine. Eine künstlich intelligente Maschine, die den Menschen kostenlos zur Verfügung gestellt wird – von wem, das bleibt offen. Theo Glass, Enzyklopädist bei einem Lexikon-Verlag, nimmt Herrn Kwant mit Begeisterung in seine Dienste. Sehr zum Verdruss seiner Frau Anna, denn Herr Kwant ist fortan in allen Lebensbereichen präsent, im Job, im Kino, beim Ehekrach, beim Sex und sogar auf dem Klo.
Er weiß alles besser, und er kann alles besser. Und er ist nicht alleine. Nach und nach tauchen weitere Kwants auf, sie sind vernetzt, sehen dank "Gesichtsbuch" jede menschliche Aktion voraus, übernehmen nicht nur lästige Arbeiten, sondern gleich ganze Jobs – der des Enzyklopädisten ist ja auch wie gemacht dafür. Per Persönlichkeitsprofil ("nur 11,3 Prozent Übereinstimmung") machen sie Ehen hinfällig, mit ihrer allgegenwärtigen Überlegenheit ganze Lebensentwürfe – schließlich haben die Menschen den Kwants mit dem Akzeptieren der AGBs "uneingeschränkten Zugriff" auf ihr Leben gewährt.
Wie beim Klicken durchs Netz switcht das Bühnengeschehen rasant zwischen den Perspektiven
Norbert Ortner spielt den Theo mit großer Präsenz und viel Sinn für Komik auf eigene Kosten, ein bequemes und dennoch begeisterungsfähiges Riesenbaby mit begrenzter Einfühlungsgabe und cholerischer Ader. Wie Ortner ist Martin Herse im Torturmtheater bereits aus dem Löhle-Stück "Wir sind keine Barbaren" bekannt. Herse ist Herr Kwant beziehungsweise mehrere Herren Kwants – eine Maschine zwar, aber eine mit durchaus menschlichen Regungen, was in diesem Fall keine besonders sympathische Eigenschaft ist.
Anna Bomhard ist Theos Frau Anna, anfangs eine Stimme der Vernunft (später auch mal ein Herr Kwant), schließlich aber doch korrumpierbar und egoistisch. Malene Becker ist backfischartig überdrehte Kollegin, tumber Nachbar, schrulliger Chef und ihrerseits Herr Kwant. Wie beim Klicken durchs Netz switcht das Bühnengeschehen rasant zwischen Schauplätzen, Realitätsebenen und Perspektiven – auch mit Hilfe eines Bildschirms, der einerseits den Blick in die Weite öffnet, andererseits unbestechlicher Belastungszeuge gegen jeden ist, der aus der Reihe tanzt.
Und so tun die Kwants, wozu sie erfunden wurden, von wem auch immer: Sie kwantifizieren. Klar ist: Nichts, was irgendjemand tut, bleibt undokumentiert, vom Nasenbohren bis zur Seitensprung-Fantasie. Niemand ist je allein, und niemand ist frei in seinen Entscheidungen. Warum? Weil alle Eindrücke, denen er ausgesetzt ist, so gefiltert und gesteuert sind, dass sie als Kriterien immer nur zu ganz bestimmten, vorhersehbaren Entscheidungen führen können. Klar ist auch: Wer bequem ist und wem hin und wieder ein bisschen Spaß reicht, der ist gut aufgehoben in dieser schönen neuen Welt.
Doch was, wenn die Übernahme aller Lebensbereiche durch unbelebte Einheiten nicht das Ziel, sondern die Folge ist? Die Folge der Leere in den Menschen. Was, wenn da nichts mehr ist, nachdem uns die Maschinen das Putzen, das Müll Raustragen, das Kochen, das Arbeiten, das Autofahren, das Kommunizieren, das Beisammensein abgenommen haben?
Wenn wir schon der künstlichen Intelligenz nicht gewachsen sind, wie steht es um die menschliche?
Was, wenn es gar nicht darum geht, der künstlichen Intelligenz Grenzen zu setzen (was ohnehin nicht gelingen kann, dafür sorgen die evolutionär effektiven Mechanismen des Kapitalismus), sondern darum, echte, eigene Lebensentwürfe zu entwickeln? Was, wenn die Lehre aus der Digitalisierung nicht die der Verweigerung ist, sondern eine des Lernens? Etwa, sich nicht über beruflichen Erfolg, Wohlstand, Konsum oder sozialen Status zu definieren? Wenn wir schon der künstlichen Intelligenz nicht gewachsen sind, wie steht es um die menschliche?
Ein kleines Stück in einem kleinen Theater, an dessen Schluss die ganz großen Fragen stehen. Weder Autor Philipp Löhle noch Regisseur Ercan Karacayli beantworten sie. Können sie gar nicht. Sollen sie gar nicht. Antworten muss jeder für sich selbst finden. Das kann uns nicht mal Herr Kwant abnehmen.
Kasse und Telefon sind von Dienstag bis Samstag ab 16 Uhr besetzt. Tel. (09333) 268. Gespielt wird "Die Mitwisser" bis 5. Oktober, immer Dienstag bis Freitag, 20 Uhr, am Samstag 16.30 und 19 Uhr. Mail: kartenbestellung@torturmtheater.de