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STUTTGART
Kahlschlag im Kunstheiligtum
Nachher: Das 'Sanctuarium' von herman de vries in Stuttgart nach der Abholzung. Die Aufnahme entstand Mitte März.
Foto: Susanne Müller-Baji | Nachher: Das "Sanctuarium" von herman de vries in Stuttgart nach der Abholzung. Die Aufnahme entstand Mitte März.
Von unserer Mitarbeiterin Susanne Müller-Baji
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:34 Uhr

Seit der IGA 1993 sollte die Kunststation „Sanctuarium“ in Stuttgarter Stadtteil Prag ein letzter Rückzugsort für die Natur sein; jetzt wurde das einst üppige Grün abgeholzt. Nicht nur der in Eschenau Knetzgau (Lkr. Haßberge) lebende Künstler herman de vries ist darüber empört.

Ein eisernes Rund mit vergoldeten Pfeilspitzen, in dessen Inneren die Natur sich selbst überlassen bleiben sollte, so hatte sich der niederländische Künstler herman de vries (Jahrgang 1931) seine Kunststation vorgestellt. 1993 hatte er sie im Rahmen der Internationalen Gartenbau-Ausstellung (IGA) auf dem oberen Ausläufer des Leibfriedschen Gartens errichtet: eine Fläche von elf Metern Durchmesser, in die der Mensch fortan nicht mehr eingreifen sollte. Allein, was durch den Zaun nach draußen wuchs, sollte gestutzt werden.

de vries: „Mein Konzept ist damit zerstört“

Doch nun der Schock: Die vormals üppige Vegetation ist weg, nur der Zaun steht noch. Eine der ersten, die den Kahlschlag Mitte März bemerkt hat, war die Künstlerin Dagmar Feuerstein, die das Werk von herman de vries sehr schätzt: „Ich fahre seit 15 Jahren fast täglich am ,Sancutarium' vorbei und konnte erst in diesem Herbst ein Eingreifen von Menschen bemerken.”

Vorher: Die Kunststation „Sanctuarium” von herman de vries in Stuttgart im Sommer 2017.
Foto: Susanne Müller-Baji | Vorher: Die Kunststation „Sanctuarium” von herman de vries in Stuttgart im Sommer 2017.

Zunächst sei nur hier und da gestutzt worden. Doch nun ist mit einem Mal alles weg. „Ich mag vor allem seine Arbeiten, in denen er die Blätter eines Baums ausstellt, und jedes Einzelne von davon ist einzigartig und unverwechselbar. Wenn man die kennt, weiß man doch, dass er das hier so nie gewollt hätte“, sagt sie aufgebracht.

Auch der Künstler spricht von „Frevel“: „Mein Konzept ist damit zerstört.” Sanctuarium bedeutet Heiligtum, und entsprechend unangetastet hätte auch die Vegetation darin bleiben sollen: „Wie der Lettner, der in vielen Kirchen den Altarbereich vor der Berührung durch die Gläubigen bewahrt, so be-schirmt das Gitter die kostbare Natur. Man darf sie betrachten, aber nicht berühren. Berührung entweiht und zerstört”, hieß es dazu im offiziellen Katalog der Stadt Stuttgart zur IGA.

Das „Parkpflegewerk“ wollte es anders

Sein „Sanctuarium“ hatte herman de vries bewusst auf der Prag verortet, umgeben von Hauptverkehrsadern und Beton: „Auch in dieser giftigen Abgas-Atmosphäre wird sie [die Natur] sich ohne unser Zutun manifestieren”, legte er damals fest. Und: „Ein Endstadium gibt es dabei nicht.” Dem gegenüber steht das „Parkpflegewerk”, das seit 1990 im Gartendenkmal Höhenpark – und damit auch im Leibfriedschen Garten – Anwendung findet: „Demnach soll die Entwicklung zum Wald durch regelmäßiges Zurückschneiden der Spontanvegetation auf das Ausgangsstadium verhindert werden”, erklärt Jana Steinbeck von der Pressestelle der Stadt Stuttgart, die mit Fritz Kuhn übrigens einen grünen Oberbürgermeister hat.

Kunst und Wildwuchs auf der einen Seite und Regulierung auf der anderen – das geht nicht zusammen. „Ich vermute, das Ganze hat mit der deutschen Sehnsucht nach Ordnung zu tun“, sagt de vries. Allerdings: Sein Münsteraner „Sanctuarium” blieb unangetastet: Zwar hätten Graffiti-Sprayer die umgebende Backsteinmauer besprüht, „was nicht schön ist, aber man schaut darüber hinweg und die Natur ist da. Das jetzt in Stuttgart ist da viel, viel schlimmer.” Im Grunde müsse das Konzept nun wieder bei Null beginnen – „aber für wie lange?”

Die Zeitungen prophezeiten „Unkraut“

Arbeiten von herman de vries sind in Sammlungen und Ausstellungen in ganz Europa zu sehen, 2015 hat er der Pavillon der Niederlande auf der Biennale von Venedig gestaltet. Die Natur ist ein zentrales Motiv seiner Arbeit. Er habe 1993 durchaus auch Spott geerntet, erinnert sich herman de vries: „Man weiß schon jetzt, was kommt, haben die Zeitungen damals geschrieben – Unkraut!?” Allerdings: In Zeiten des Baubooms, der Zersiedlung der Landschaft und der vielfältigen Zerstörung der Natur, die man in Stuttgart vielleicht noch deutlicher spürt als anderswo, hat sich die Wahrnehmung seither grundlegend gewandelt. Das „Sanctuarium” muss heute als visionär gelten. Dass es jetzt abgeholzt wurde, unterstreicht das im Grunde nur.

 
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