Lange stehen Paolo und Cristina vor dem großen „journal“ von herman de vries. Die beiden Venezianer sind Bootsführer, haben den Künstler und sein Team im vergangenen Herbst tagelang durch die Lagune gefahren. Zu Orten, die kein Tourist je sehen wird. Beide kennen die faszinierende Wasserlandschaft mit den mehr als 60 Inseln wie ihre Westentasche. Jetzt stehen sie staunend im niederländischen Pavillon auf der Biennale vor dem „journal from the laguna of venice“. Auf der ersten der 123 Seiten dieses ungewöhnlichen Tagebuchs einer Reise stehen auch ihre Namen: Cristina della Toffola und Paolo dei Rossi.
Immer wieder zeigen sie auf ein Bild, erinnern sich, wo herman de vries die Muscheln, die Blätter, die Keramikscherben, die Vogelfederchen, die Steine und die alte Zigarettenschachtel gefunden hat. Sie waren auch dabei, als einer aus dem Team auf Murano in einen Altglascontainer kletterte, um rote und blaue Glasstücken herauszuholen. Im milden Licht des Pavillons leuchten sie so stark, dass die Besucher unweigerlich angezogen werden. Monatelang hat Susanne de Vries das „journal“ gefertigt, hat mit ihrem Mann das Material sortiert, bewertet, hat geduldig fragile Samen, Gräser und schwere Steine aufgeklebt. Die Besucher der Biennale mit ihren einerseits sehr politischen, teilweise aber auch beliebigen Ausstellungen reagieren fasziniert. Es gibt wohl nicht viele Arbeiten, die sich so direkt mit der Stadt auseinandersetzen.
Als herman de vries und sein Team wenige Tage vor der Eröffnung der 56. Biennale nach Venedig reisen, liegen anstrengende Monate der Vorbereitung hinter und nicht weniger anstrengende Tage vor ihm. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Ausstellung längst installiert, aber auf seinem Zeitplan stehen mehr als 20 Interviews und mehrere Termine mit Ministern und einflussreichen Sammlern.
Und eine Arbeit muss noch gemacht werden: An die Wand neben dem Eingang, hinter den drei verbrannten Baumstämmen vom Sonnwendfeuer in Eschenau, will er den Satz schreiben, mit dem er seit langem arbeitet und der nun Titel der Ausstellung ist: to be all ways to be. Zu Hause hat er ein paar Stücke verbranntes Holz ausgewählt, die gut in der Hand liegen. Nun wählt er eines aus, setzt sich noch einen Moment, konzentriert sich und schreibt dann langsam, Buchstabe für Buchstabe, die Worte an die weiße Wand – und signiert die Arbeit schließlich mit dem Abdruck seiner Hand. Tage später entdeckt das Aufsichtspersonal, dass eine Besucherin geschwärzte Hände hat. Die Frau will unbedingt den von ihr so verehrten Künstler sprechen, der zu dieser Zeit aber nicht im Pavillon ist. Bevor sie jemand davon abhalten kann, drückt sie ihre Hand neben die Signatur von herman de vries. Noch am Abend wird der Abdruck überstrichen.
Abgesehen vom Auftritt dieses aufdringlichen Fans ist der 1954 von Architekt Gerrit Rietveld erbaute Pavillon ein Ort der Ruhe im Biennale-Trubel. Schon im Eingang werden die Besucher leiser. Aus Lautsprechern ist die Stimme von de vries zu hören, wie er die Worte „infinity, in finity“ spricht. Die meisten bewegen sich langsam, fast ein wenig andächtig durch den Raum. Und der ist am Morgen am schönsten, wenn das Licht schräg durch die raumhohen Fenster fällt und die Erdausreibungen zum Leuchten bringt. Für die Biennale hat sich herman de vries 84 Erden aus aller Welt aus der mehr als 8000 Proben umfassenden Sammlung ausgeliehen, die er vor Jahren an ein Museum in Südfrankreich verkauft hat – und hat sie auf Papier ausgerieben. Man sieht noch die Spuren seiner Finger. Die Besucher sind fasziniert von der Vielfalt, vom tiefen Weinrot, dem sonnigen Gelb, Leuchtorange, hellen Grün und tiefen Schwarz. Davor zwölf schmale Holzstelen, auf denen jeweils ein Stein liegt.
Der Titel ist so einfach wie die Arbeit selbst: „the stones“, gesammelt zwischen 1996 und 2009. Jeder Stein eine kleine Skulptur. herman de vries nennt sie „sculptures trouvées“, gefundene Skulpturen. Es sind Steine, die ihm ins Auge fallen, ohne dass er danach sucht. Sie sind, was sie sind, nicht Symbol für etwas. Darüber ein großes Foto: herman de vries kauert an einem Fluss und trinkt. Er ist nackt. So fühlt er sich am deutlichsten eins mit der Natur.
Als ihn in Venedig ein besonders eifriger Interviewer bittet, ob er nicht für ein Foto sein Hemd ausziehen könne, zieht sich herman de vries spontan ganz aus, und der Mann ist begeistert. Freilich findet dieses Interview nicht im Pavillon, sondern im Garten des Hauses statt, das die niederländische Mondrian-Stiftung für das Team gemietet hat. Ein geschützter Ort, in den sich herman und Susanne de vries nach anstrengenden Stunden zurückziehen.
So viele wollen ihn sprechen: Journalisten, Fotografen, Sammler, Kuratoren, Galeristen, Verleger, niederländische Minister. Auch viele Freunde und Weggefährten aus ganz Europa sind angereist. Geduldig und professionell absolviert der 83-jährige gebürtige Alkmaarer, der seit 1970 in Eschenau in Steigerwald lebt, die offiziellen Termine. Dazwischen streift er mit Freunden durch die Ausstellung, greift eine Handvoll Rosenknospen aus der Installation „108 pound rosa damascena“, deren Duft den ganzen Raum erfüllt, und spricht über seine Sammlung alter Sicheln.
Am Abend der Eröffnung des Pavillons für geladene Gäste findet ein großes Fest statt. Die Mondrian-Stiftung als Veranstalter hat auf Lazzaretto Vecchio eingeladen. Boote bringen die Gäste auf die Insel in der Lagune, die herman de vries in sein Ausstellungskonzept einbezogen hat. Lazzaretto Vecchio war einst eine Quarantänestation. Unter dem wild wuchernden Gras hat man die Skelette von Pesttoten gefunden. Mit Erlaubnis der Behörden hat herman de vries einen Bereich zum „sanctuarium“ erklärt, zu einem Ort, der von Menschen nicht mehr betreten wird. Sie können aber von außen beobachten, wie sich die Natur Gebäude zurückerobert. Mit kleinen Marmortafeln hat herman de vries einige Stellen markiert: „natura mater“ (Mutter Natur) steht da in goldener Schrift oder „be aware“ (sei aufmerksam).
Er selbst ist sogar in diesen Tagen aufmerksam für Details, an denen der typische Venedig-Besucher rastlos vorübergeht: ein hellgrüner Reflex auf dem Wasser, ein zerknülltes gelbes Papier in einem verrosteten Gitter, ein Graffiti, die Treppenstufen im Palazzo Mora. All das fotografiert er. Ein Verleger für das Buch „venedig details“ ist schon gefunden.
Die 56. Biennale dauert bis 22. November.