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ESCHENAU
Die fünfte „spur“ ist zerstört
Abgekratzt: Der Künstler herman de vries (links) und Ulrich Mergner, Leiter der bayerischen Staatsforsten in Ebrach, begutachten die Stelle im Steinbruch oberhalb des Böhlgrundes, an der Unbekannte den Text „chance und change“ zerstört haben.
Foto: Fotos (2): Katharina Winterhalter | Abgekratzt: Der Künstler herman de vries (links) und Ulrich Mergner, Leiter der bayerischen Staatsforsten in Ebrach, begutachten die Stelle im Steinbruch oberhalb des Böhlgrundes, an der Unbekannte den Text ...
Katharina Winterhalter
Katharina Winterhalter
 |  aktualisiert: 04.02.2016 18:09 Uhr

Vorsichtig klettert herman de vries den Abhang in den kleinen Steinbruch hinunter. Für einen Moment muss der 83-Jährige die Stelle suchen, an der das Wortpaar „chance & change“ in goldenen Lettern auf der Sandsteinwand stand. Vor etwa einem Jahr hatten ihm Freunde erzählt, dass irgendjemand „chance“ herausgekratzt hatte, vor wenigen Tagen entdeckte er selbst, dass auch das zweite Wort fast nicht mehr zu lesen ist. Damit sind fünf Kunstwerke des Projektes „spuren im steigerwald“ zerstört.

An diesem Nachmittag ist herman de vries noch einmal den steilen Weg aus dem Böhlgrund hochgestiegen, um Ulrich Mergner die Stelle zu zeigen. Der Leiter der Bayerischen Staatsforsten Ebrach wird wieder Anzeige erstatten, wie schon vor acht Jahren, als die ersten Texte abgekratzt wurden. Denn ein Großteil der 40 „spuren“ liegt auf Gebiet der Staatsforsten im nördlichen Steigerwald. „Wer auch immer das macht, er zerstört Kunstwerke, die dem bayerischen Volk gehören“, sagt Mergner und vergleicht die Taten mit einem Angriff auf Gemälde in einem staatlichen Museum.

Texte an verborgenen Stellen

Der materielle Wert der „spuren“ lässt sich nur schwer beziffern, weil herman de vries sie dieser Landschaft, die ihm Heimat geworden ist, und den Menschen im Steigerwald, zum Geschenk gemacht hat. Aber ein Vergleich macht die Dimension deutlich: Eine Serie mit Erdausreibungen, die er der Schweinfurter Kunsthalle geschenkt hat, wird auf rund 300 000 Euro geschätzt. Und seit der niederländische Künstler, der seit mehr als 40 Jahren in Eschenau (Lkr. Haßberge) lebt, für den niederländischen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2015 ausgewählt wurde und an der großen ZERO-Ausstellung im Guggenheim Museum in New York teilnimmt, ist der Wert seiner Arbeiten weltweit noch einmal gestiegen.

Umso unverständlicher die Zerstörung der sehr poetischen und unauffälligen Texte und goldenen Punkte an verborgenen Stellen. In aufgelassenen Steinbrüchen, an Quellen, Bachtunneln und auf Findlingen hat herman de vries kurze Texte mit meist philosophischem Ursprung in den Stein meißeln und vergolden lassen– entweder in ihrer Originalsprache Griechisch, Latein und Sanskrit oder in der Sprache, in der sie ihm bewusst wurden, also Deutsch oder Englisch.

Es sind Worte und Symbole, mit denen er seit langem arbeitet und die mit wichtigen Erfahrungen verbunden sind. Seine langen Reisen beispielsweise brachten die Erfahrung von „change“, also Veränderung. Ihm wurde bewusst, dass Veränderung immer auch eine Chance ist. Und so überlegt er jetzt, über den zerstörten Text die beiden Worte in umgekehrter Reihenfolge neu setzen zu lassen – aus Veränderung soll eine neue Chance wachsen.

Schon einmal ist aus Zerstörung etwas Neues entstanden. 2006 hatten Freunde entdeckt, dass der Sanskrit-Text über die Vollkommenheit in einem Steinbruch bei Obersteinbach (Lkr. Hassberge) vollständig herausgemeißelt war. Sie sammelten im Laub unter der Felswand die abgesplitterten Steinbröckchen, auf denen noch Spuren des Blattgoldes zu erkennen waren. Aus den Splittern hat herman de vries neue Arbeiten geschaffen, die ein Sammler aus Frankreich gekauft hat.

Überwachung mit Kameras?

Ein Stein mit einem goldenen Uroboros, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt und so einen Kreis bildet – Symbol für den Kreislauf des Lebens – ist vor einigen Jahren ganz verschwunden. Der Stein lag am Waldrand von Fatschenbrunn (Lkr. Haßberge) und war so groß, dass er wohl nur mit Hilfe von Maschinen gestohlen werden konnte. Vielleicht liegt er jetzt in irgendeinem Garten, vermuten herman de vries und Ulrich Mergner. Sie glauben nicht, dass es sich hier um den gleichen Täter handelt wie bei den anderen „spuren“, die entweder herausgemeißelt oder ausgekratzt wurden.

Ulrich Mergner überlegt nun, die Kunstwerke mit Kameras überwachen zu lassen und bittet alle Spaziergänger, ein wachsames Auge zu haben. Seit das Projekt 2006 zum 75. Geburtstag von herman de vries eröffnet wurde, wächst die Schar von Interessierten aus nah und fern, die sich auf die Suche nach der verborgenen Kunst im Steigerwald macht.

„spuren“ von herman de vries

Im niederländischen Alkmaar wurde herman de vries 1931 geboren. Seit Jahrzehnten schreibt er alles klein, aus der Ablehnung jeglicher Hierarchie heraus. Seit 1970 lebt er in Eschenau im Steigerwald, den er seine Heimat und sein Atelier nennt. Die „spuren“ sind 23 Kurztexte, zwei Symbole und 15 goldene Punkte an verborgenen Stellen, die für herman de vries von Bedeutung sind. Es sind Stellen, an denen er bewusst machen will, dass sich die Wahrnehmung des Menschen verändert mit dem Ort, an dem er sich befindet. Sie befinden sich in der Gegend zwischen Eschenau, Fabrikschleichach, Fatschenbrunn und Obersteinbach.

Mehr Informationen und Anmeldung zu geführten Spuren-Wanderungen bei

ellen.b.schindler@web.de

Chance und Veränderung: So sah der Text vor seiner Zerstörung aus.
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Kommentare
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  • H. L.
    alles "Kunst" ist.....
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    • Antworten
  • J. F.
    Interessant, dass die Zerstörungen zeitgleich mit der Diskussion um einen Nationalpark Steigerwald begonnen haben. Eck, Ebert und Ständecke betonen stets, wie gut alles sei; sie haben Angst vor Veränderung. Gesinnungsgenossen sehen sich möglicherweise schon durch ein paar Buchstaben provoziert, etwas gegen die "Änderung" zu unternehmen.
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