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Weikersheim
Junge Oper Weikersheim: Carmen, Künstlerin aus dem Meth-Labor
Regisseur Björn Reinke verpflanzt "Carmen" ins Street-Art-Millieu. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe bleibt freilich die gleiche. Sehenswert ist das Stück dennoch.
In Weikersheim stirbt Carmen (Julia Werner) im Lady-Gaga-Outfit. Erstochen hat sie Don José (Jaesung Kim).
Foto: Jeunesses Musicales Deutschland | In Weikersheim stirbt Carmen (Julia Werner) im Lady-Gaga-Outfit. Erstochen hat sie Don José (Jaesung Kim).
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 12.09.2022 15:29 Uhr

Es beginnt mit einem kleinen Schreckmoment: Ist diese "Carmen"-Inszenierung möglicherweise überladen mit aktualisierender Symbolik? Eine junge Frau singt ein fremdartiges – arabisches – Lied und sprüht "Liberté" an die Wand, es treten auf ein Kindersoldat (nach dem Graffito von Banksy) und ein Transvestit. Fehlt nur noch das Thema Klimawandel, könnte man spotten, wäre dann aber im Unrecht: Regisseur Björn Reinke erzählt Bizets Dauerwelthit an der Jungen Oper Schloss Weikersheim schlüssig und stringent.

Engel oder Teufelin? Julia Werner als Carmen.
Foto: Jeunesses Musicales Deutschland | Engel oder Teufelin? Julia Werner als Carmen.

Aus den Schmugglern ist eine bunte Horde Street-Art-Aktivistinnen und -Aktivisten geworden (Kostüme: Angela C. Schuett), die Soldaten sind Polizisten in der schwarzen Kluft, mit der üblicherweise Demos aufgelöst werden. Die Zigarettenarbeiterinnen entsteigen dem Bühnenboden in hellblauen Plastikoveralls, seit der Serie "Breaking Bad" untrüglicher Hinweis auf ein Crystal-Meth-Labor. Und für die Schlussszene trägt Carmen ein Kleid, dass sehr an Lady Gagas Outfit zur Vereidigung von Joe Biden erinnert – Zeichen, dass die Subkultur es bis in die vorderste Reihe des Establishments geschafft hat? Die blutrote Farbe jedenfalls spricht für sich.

Geschickt auf zwei Stunden geraffte, pausenlose Handlung

Jürgen Franz Kirner hat für Projektchor und Solisten (Gesangsstudierende oder frisch Examinierte aus drei Erdteilen) ein geometrisch klares Bühnenbild aus drei begehbaren Scheiben und einer riesigen Sonne aus Stoffdreiecken in den Schlosshof gestellt. Es strahlt Harmonie und Unbehaustheit gleichzeitig aus und ist optimaler Schauplatz für die geschickt auf zwei Stunden geraffte, pausenlose Handlung.

Vielversprechender Tenor: Jaesung Kim als Don José
Foto: Jeunesses Musicales Deutschland | Vielversprechender Tenor: Jaesung Kim als Don José

Das Interessante an "Carmen" ist, dass man das Geschehen nahezu beliebig verpflanzen kann – die Geschichte wird immer die einer unmöglichen Liebe bleiben. Einer Beziehung, die endet, bevor sie  begonnen hat, weil zwei unvereinbare Lebensmodelle aufeinandertreffen, hier vertreten durch die Künstlerin Carmen, den Spießer Don José und Micaëla, das Bindeglied zwischen den Welten.

Carmens Anziehungskraft liegt in ihrer Überlegenheit

Und es sind auch diese drei, die aus einem sängerisch durchwegs hochklassigen Ensemble herausragen: In der Premiere am Donnerstag sang Julia Werner die Titelrolle mit klarem, warmem, tragendem  Mezzo. Sie ist am besten, wenn sie sich nicht lasziv bewegen muss. Ihre Anziehungskraft besteht in der – nicht zuletzt intellektuellen – Überlegenheit ihrer Figur. Damit ist Jaesung Kims Don José (wie jeder Don José der Operngeschichte) freilich überfordert. Nicht allerdings mit der Partie, die er mit strahlendem, mehr als vielversprechendem Tenor gestaltet.

Raus aus der Hascherl-Ecke: Sonja Isabel Reuter als Micaëla
Foto: Jeunesses Musicales Deutschland | Raus aus der Hascherl-Ecke: Sonja Isabel Reuter als Micaëla

Sonja Isabel Reuter gelingt es, mit grandios souveränen Arien, ihre Micaëla aus der Hascherl-Ecke zu holen – große Klasse. Durch diese Konstellation ist ein wenig Druck von Escamillo (Kihoon Han) als Trennungsgrund und Nebenbuhler genommen, jedenfalls wirkt er in seiner selbstverliebten Behäbigkeit nicht sonderlich interessiert.

Eine reine Freude ist, was unter der Leitung von Elias Grandy aus dem Graben kommt. Das groß besetzte Bundesjugendorchester spielt hochsensibel, präzise und makellos sowieso. Ihm gilt denn auch ein großer Teil des begeisterten Applauses zum Schluss.

Weitere Vorstellungen täglich bis 1. August - alle ausverkauft.

 
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