Es beginnt mit einem kleinen Schreckmoment: Ist diese "Carmen"-Inszenierung möglicherweise überladen mit aktualisierender Symbolik? Eine junge Frau singt ein fremdartiges – arabisches – Lied und sprüht "Liberté" an die Wand, es treten auf ein Kindersoldat (nach dem Graffito von Banksy) und ein Transvestit. Fehlt nur noch das Thema Klimawandel, könnte man spotten, wäre dann aber im Unrecht: Regisseur Björn Reinke erzählt Bizets Dauerwelthit an der Jungen Oper Schloss Weikersheim schlüssig und stringent.
Aus den Schmugglern ist eine bunte Horde Street-Art-Aktivistinnen und -Aktivisten geworden (Kostüme: Angela C. Schuett), die Soldaten sind Polizisten in der schwarzen Kluft, mit der üblicherweise Demos aufgelöst werden. Die Zigarettenarbeiterinnen entsteigen dem Bühnenboden in hellblauen Plastikoveralls, seit der Serie "Breaking Bad" untrüglicher Hinweis auf ein Crystal-Meth-Labor. Und für die Schlussszene trägt Carmen ein Kleid, dass sehr an Lady Gagas Outfit zur Vereidigung von Joe Biden erinnert – Zeichen, dass die Subkultur es bis in die vorderste Reihe des Establishments geschafft hat? Die blutrote Farbe jedenfalls spricht für sich.
Geschickt auf zwei Stunden geraffte, pausenlose Handlung
Jürgen Franz Kirner hat für Projektchor und Solisten (Gesangsstudierende oder frisch Examinierte aus drei Erdteilen) ein geometrisch klares Bühnenbild aus drei begehbaren Scheiben und einer riesigen Sonne aus Stoffdreiecken in den Schlosshof gestellt. Es strahlt Harmonie und Unbehaustheit gleichzeitig aus und ist optimaler Schauplatz für die geschickt auf zwei Stunden geraffte, pausenlose Handlung.
Das Interessante an "Carmen" ist, dass man das Geschehen nahezu beliebig verpflanzen kann – die Geschichte wird immer die einer unmöglichen Liebe bleiben. Einer Beziehung, die endet, bevor sie begonnen hat, weil zwei unvereinbare Lebensmodelle aufeinandertreffen, hier vertreten durch die Künstlerin Carmen, den Spießer Don José und Micaëla, das Bindeglied zwischen den Welten.
Carmens Anziehungskraft liegt in ihrer Überlegenheit
Und es sind auch diese drei, die aus einem sängerisch durchwegs hochklassigen Ensemble herausragen: In der Premiere am Donnerstag sang Julia Werner die Titelrolle mit klarem, warmem, tragendem Mezzo. Sie ist am besten, wenn sie sich nicht lasziv bewegen muss. Ihre Anziehungskraft besteht in der – nicht zuletzt intellektuellen – Überlegenheit ihrer Figur. Damit ist Jaesung Kims Don José (wie jeder Don José der Operngeschichte) freilich überfordert. Nicht allerdings mit der Partie, die er mit strahlendem, mehr als vielversprechendem Tenor gestaltet.
Sonja Isabel Reuter gelingt es, mit grandios souveränen Arien, ihre Micaëla aus der Hascherl-Ecke zu holen – große Klasse. Durch diese Konstellation ist ein wenig Druck von Escamillo (Kihoon Han) als Trennungsgrund und Nebenbuhler genommen, jedenfalls wirkt er in seiner selbstverliebten Behäbigkeit nicht sonderlich interessiert.
Eine reine Freude ist, was unter der Leitung von Elias Grandy aus dem Graben kommt. Das groß besetzte Bundesjugendorchester spielt hochsensibel, präzise und makellos sowieso. Ihm gilt denn auch ein großer Teil des begeisterten Applauses zum Schluss.
Weitere Vorstellungen täglich bis 1. August - alle ausverkauft.