
Was war das denn für ein phänomenales Musik-Tanz-Schauspiel-Format, mit dem das STEGREIF.orchester das Finalwochenende des Kissinger Sommers einläutete? Gänsehaut pur erzeugte das Premieren-Konzert "#bechange: Feeling" im Max-Littmann-Saal. Die Klangfusionen aus Hildegard von Bingens (1098 – 1179) "Ordo Virtutum" mit zeitgenössischen Rekompositionen von Julia Bełat elektrisierten.
Mit der Reihe #bechange will Stegreif einen nachhaltigen "Hauch von Zuversicht in eine Welt in Schieflage" bringen. Es ist "eine musikalische Aufforderung sich einzubringen und Neues zu denken, zu fühlen und zu erschaffen". Ist gelungen! Bravo!
Im Foyer war anfangs wenig Smalltalk zu hören, aber viel Musik aus dem ersten Satz "#freemahler – what the earth tells us" vom Rekomponisten und STEGREIF.orchester-Gründer Juri di Marco. Das Ensemble wandelte barfuß umher, sich oder seine Instrumente mit getrockneten Blättern oder Baumzweigen geschmückt. Mit Klängen nahmen sie gefangen, öffneten Ohren und Herzen und erst kurz vor Konzertbeginn die Türen zum Saal, der unbestuhlt war. In der Mitte ein Sitztribünen-Altar auf dem ein perkussives Wasser-Taufbecken thronte.

Ein sakraler musikalischer Akt begann, inspiriert von Hildegards Mysterienspiel, das vom Kampf der Seele zwischen dem Bösen (Teufel) und dem Guten (Tugenden) erzählt. Eingeblendet auf der Leinwand: Noten und Texte von Hildegard. Alle Streicher, Bläser, Schlagzeuger und der E-Gitarrist beherrschten mit traumwandlerischer Sicherheit ihr Instrument – genreübergreifend. Hatten die Choreografie verinnerlicht, die viel Raum zum Improvisieren ließ. Spielten ohne Noten und mit dem Publikum, das mit Standortwechsel in die Performance einbezogen war.
Der Teufel steckte im Schlagzeuger Felix Demeyere: Mal hüpfte er schalkhaft umher und biss in den Apfel der Erkenntnis. Mal raste er auf einer höllischen Rolltribüne höhnend durch die Massen. Expressiv und intensiv die vom Bösen besessene Cellistin Julia Bełat: ihre Performance, mal lasziv, mal eruptiv, mal wahnsinnig tönend – am Ende untermalt von heiligsten gregorianischen Chorälen – war beispiellos. Wunderbar das betörende Liebesduett zwischen einer singenden Streicherin und dem E-Gitarristen.

Die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde tauchten auf. Verkörperten die vier Trittleitern die Kardinaltugenden oder Himmelsrichtungen, auf denen sich Instrumentengruppen ansiedelten? So viele Deutungen. So viel Kreativität und Fantasie blitze auf – auch was Klang- und Lichttechnik betraf. Das Ende ebenso ungewöhnlich wie der belebende Konzertabend. Nach und nach verschwand das Ensemble bis auf drei Celli, die dumpfe Ton-Reihen an einem über die Bühne gespannten Seil erzeugten: Sie machten den Ton aus. Jubelnder Beifall!