
Ganz hinten, im Eck, da steht die unauffälligste und deshalb bemerkenswerteste Vitrine dieser Ausstellung. Da, im übermannsgroßen Glaskasten nämlich, liegt: nichts. Nur die Beschriftung verrät, was zu sehen wäre, gäbe es diese „Leerstelle“ nicht: „Becken mit rundem Eingang“. Es trägt die Inventarnummer HR-091.
Weit über 100 Knochenpräparate von weiblichen Becken hat das Würzburger Institut für Geschichte der Medizin in seinem Bestand. Präparate, die aus der Sammlung der Universitätsfrauenklinik stammen. Und aus einer Zeit, in der man keine ethischen, keine moralische Bedenken hatte, die Knochen von Frauen zur Anschauung aufzubewahren.
Hier aber ist die Vitrine leer. „Möglicherweise Becken einer Negerin (?)“ ist handschriftlich auf dem kleinen brauen Papp-Etikett notiert, das mit Draht am Präparat befestigt war. Nur das vergilbte, verknickte Schildchen haben die Ausstellungsmacher in die Vitrine gelegt – es muss genügen. Sichtbarer soll und braucht das bedenkliche Becken-Exponat aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zu sein.
Unser Blick auf die Welt ist Ergebnis von (Seh-)Erfahrungen, Lernprozessen und von kulturellen Konventionen
Was zeigen? Was nicht? Auf sehr kluge Weise haben sich fünf Nachwuchswissenschaftler der Universität Würzburg mit unserer Wahrnehmung und unserem Sehen, mit dem Zeigen und dem Offenbaren beschäftigt. Aus vier Sammlungen der Uni haben sie historische Objekte zusammengestellt. Und im Martin von Wagner Museum – allen Unterschieden zum Trotz – miteinander verbunden. Zeichnungen Martin von Wagners, Wachsbilder von Körperteilen, medizinische Geräte, Schulwandbilder, Apparaturen der Psychologie. „Im Netz des Sichtbaren“ heißt die Ausstellung, die bis 31. Mai hier in der Residenz zu sehen ist.
Wieso ein Beckenmesser aus Stahl und Messing oder Wachsmoulagen von Masern neben Aktstudien des Malers, Archäologen, Kunstsammlers Martin von Wagner? Wieso Handstereoskope und Versuchsmaterial für optische Täuschungen neben Zeichenmodellen und Wandtafeln, die vor 100 Jahren in den Klassenzimmern hingen? Und wieso all das in der Gemäldesammlung der Universität?

Zu verstehen ist diese besondere Ausstellung aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt, an dem Wissenschaftler von vier Sammlungen in den vergangenen drei Jahren gemeinsam arbeiteten: „Vernetzten – Erschließen – Forschen“, hieß die Förderlinie des Bundesforschungsministeriums, die universitäre Sammlungen unterstützen sollte. In Würzburg schlossen sich die Forschungsstelle Historische Bildmedien, das Martin von Wagner Museum, die Medizinhistorischen Sammlungen und das Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie zusammen. Und ihr Würzburger Antrag bestach: „Insight. Signaturen des Blicks – Facetten des Sehens“.
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Es galt, so schildert es Projektsprecher und Bildungswissenschaftler Professor Andreas Dörpinghaus, die teils brachliegenden Sammlungsbestände zu sichten, zu erschließen, zu digitalisieren. Es galt aber auch, Unsichtbares sichtbar zu machen: Im Austausch von Kunsthistorikern, Medizinhistorikern, Psychologen, Pädagogen, Archäologen sollte – quasi vielperspektivisch – das Sehen selbst „in den Blick gerückt“ werden.

Im ersten Moment mag man sich wundern: das Sehen? Ist das nicht selbstverständlich in unserer durch und durch visuellen Welt? Die Ausstellung macht schnell klar und öffnet die Augen: Auch Sehen will erst gelernt sein. Es wird gelehrt, geschult, gesteuert, gelenkt – auch beeinflusst und instrumentalisiert. Wie wir sehen und was wir sehen, ist nie ein reines Abbild einer vermeintlichen „Realität“. Das Auge ist keine „Apparatur“. Und unser Blick auf die Dinge und die Welt ist Ergebnis von (Seh-)Erfahrungen, Lernprozessen, von kulturellen Konventionen, nicht zuletzt von ästhetischen Normen.
Das junge Kuratorenteam hinterfragt nun – theoretisch fundiert, ideenreich und sinnlich (!) gestaltet – innerhalb der Gemäldegalerie die „Ästhetik des Sehens“, die „Erziehung des Blicks“ und die „Ethik des Blicks“. „Diese Dimensionen des Sehens existieren nicht voneinander getrennt“, sagt Professor Damian Dombrowski, der Direktor der Neueren Abteilung.

Was also nehmen wir wahr und wonach urteilen wir, was schön ist? Was wird „gezeigt“ und sichtbar gemacht? Wer die Ausstellung besucht, überschreitet – hin und her und her und hin – die Grenzen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Und findet neben verblüffenden Antworten noch mehr Fragen: Wir glauben zu wissen, was und wie wir sehen – doch sehen wir alle gleich? Und auch das gleiche? Welcher Blick wurde uns anerzogen? Was bleibt uns verborgen?
Etliche Sammlungsstücke wurden über Jahrzehnte irgendwo verräumt und vergessen in Kellern oder auf Dachböden unsichtbar
Beim „Becken mit rundem Eingang“ gibt die leere Vitrine eine Antwort. Und beim Schulwandbild über den Teehandel aus der Zeit um 1900 genügt ein Blick auf die großen Frachtschiff-Segel: „Thee Marke Theekanne“. Weshalb dieses Sichtfeld-weitende Forschungsprojekt mehrerer Disziplinen so wichtig war: Es hat den Blick auf die vielen Sammlungen der Universität gelenkt, die für Lehre oder Forschung einst angelegt worden waren. Und die kaum bekannt – oder besser gesagt: für die Öffentlichkeit und oft selbst an der Universität nicht sichtbar – sind und waren.

Rund 30 Sammlungen gibt es an der Uni insgesamt – von der bekannten Gemäldesammlung angefangen bis zur Mikroskopischen Sammlung der Mineralogen über die Ameisensammlung der Zoologie und die Asservatensammlung am Institut für Rechtsmedizin bis zur jener Moulagensammlung der Hautklinik, die – frei von Scham - Knötchenflechte an intimen Körperstellen zeigt. „Insight“ ermöglichte es, sich intensiv mit vier Sammlungen zu befassen – und Tausende Objekte zu sichern, zu digitalisieren und zum Teil auch zu restaurieren. Darunter sämtliche 3300 Zeichnungen Martin von Wagners.
„Es gibt genügend Uni-Sammlungen, die nach wie vor in prekären Zustanden sind“, sagt Kulturwissenschaftlerin Dr. Maria Keil, die am Institut für Geschichte der Medizin sichtete, suchte, erfasste. Und die davon erzählen kann, wie etliche Sammlungsstücke über Jahrzehnte irgendwo verräumt und vergessen in Kellern oder auf Dachböden unsichtbar wurden. Ein „Neben-Verdienst“ des Forschungsprojekts: Informationen und Handreichungen über und für all die anderen Uni-Sammlungen gibt es künftig kompetenzgebündelt in einem „Blick-Portal“ online.

Was die Ausstellungsmacher nicht wollten: eine verkopfte wissenschaftliche Ausstellung machen und einfach Forschungsergebnisse zeigen. Was sie wollen: Dass die Besucher ganz genau hinschauen, das Sehen „erleben“, eigene Erfahrungen machen. Zum Beispiel mit der „Umkehrbrille“, die die Welt auf den Kopf stellt. Ein historischer Film zeigt ein psychologisches Experiment, bei dem ein Proband sich tatsächlich nach einer Woche an das umgedrehte „falsche“ Sehen angepasst hatte – und mit der Brille sogar Fahrrad fuhr.
Ausstellung: „Im Netz des Sichtbaren“, in der Gemäldegalerie des Martin von Wagner Museums der Uni Würzburg in der Residenz. Bis 31. Mai Dienstag bis Samstag und an jedem zweiten Sonntag von 10 bis 13.30 Uhr. Der Eintritt ist frei. Infos und Begleitprogramm unter wue-macht-sichbar.de