Erst kamen die Pferdebahnen, dann fuhren die Fahrzeuge dampfgetrieben durch die Straßen. Und bis die Straßenbahnen elektrisch wurden, war es nur noch eine Frage der Zeit: 1881 nahm bei Berlin die Elektrische Straßenbahn Lichterfelde-Kadettenanstalt den Probebetrieb auf. Werner von Siemens hatte die Wagen gebaut, auf der 2,5 Kilometer langen Strecke waren sie mit einer Geschwindigkeit von maximal 20 km/h unterwegs. Das Streckengleis befand sich da noch auf einer eigenen Trasse. Die erste regelmäßig betriebene Straßenbahn mit Oberleitung fuhr dann ab 1884 zwischen Frankfurt und Offenbach. Und immer mehr Linien in deutschen Städten kamen in den 1890er Jahren dazu: in Gera, in Bremen, in Chemnitz, Dresden, Hannover, Hamburg, Wuppertal. In Würzburg wurde die 1892 als erste Straßenbahnlinie eröffnete Pferdebahn auf den elektrischen Betrieb umgestellt.
Immer mehr Straßenbahnen, immer mehr Unfälle
Der Verkehr nahm zu – und damit auch die Zahl der Unfälle. Passanten gerieten aufs Gleis, Kutschen kreuzten den Weg, Straßenbahnführer konnten nicht mehr bremsen. Auch in den USA, wo das noch junge Straßenbahnwesen einen raschen Aufschwung erlebte, beunruhigte die zunehmende Zahl der Verletzten, gar Toten durch Unfälle im Verkehr. Und vor allem: die vielen Klagen und Gerichtsverfahren.
1910 beauftragte die amerikanische Gesellschaft für Arbeitsgesetzgebung den deutschstämmigen Psychologen Hugo Münsterberg, ein Ausleseverfahren für Straßenbahnführer zu entwickeln. Denn man hatte bemerkt, dass manche Fahrer keine oder nur sehr wenige Unfälle hatten – andere hingegen sehr viel.
Hugo Münsterberg hatte bei Wilhelm Wundt in Leipzig promoviert, sich früh mit experimenteller Psychologie beschäftigt, in Freiburg ein Labor für Versuche und Messungen aufgebaut und war dann als Professor an die Harvard-Universität berufen worden.
Den jungen Psychologen interessierte die Anwendung seiner Wissenschaft – und in den Vereinigten Staaten erlebte er die Moderne im Alltagsleben in dynamischer Ausprägung: riesige Städte, Elektrizität, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, Automobile, Telefonie, Film.
Wer taugt zum Straßenbahnführer?
Wie ließ sich die Zahl der Straßenbahnunfälle senken? Der Harvard-Professor sah die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Fahrers als Hauptursache für Unfallhäufigkeiten an. Um sie zu messen, konstruierte er einen Apparat, mit der sich die Verkehrssituation simulieren ließ – und entwickelte damit den ersten systematischen Berufseignungstest überhaupt.
„Der Faktor Mensch bekam Bedeutung“, sagt Professor Armin Stock, Leiter des Adolf-Würth-Zentrums für die Geschichte der Psychologie in Würzburg. „Der Mensch und seine Eignung rückten damit erstmals in den Fokus des Verkehrswesens und bald auch der Industrie.“ Stock hat eine umfangreiche Ausstellung zusammengestellt, die die Entwicklung der Psychotechnik zeigt. Denn als die Psychologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und Naturwissenschaftler zunehmend ihre Methoden auf psychologische Fragen anwandten, war das Fach zunächst eine reine Grundlagenwissenschaft. Zumindest ein halbes Jahrhundert lang.
Die Psychologie sollte nützlich sein - für die Gesellschaft und Wirtschaft
„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann der Ruf immer lauter, dass die Psychologie wie die Naturwissenschaften zum Wohle der Gesellschaft eingesetzt werden muss“, sagt Stock. Einer der Ersten, der dies forderte – und die Forderung auch selbst umsetzte – war William Stern. Heute vor allem durch die „Erfindung“ und Konzeption des Intelligenzquotienten bekannt, gründete Stern gemeinsam mit Otto Lipmann in Berlin ein erstes Institut für angewandte Psychologie. Die neue „Psychotechnik“, wie er sein Arbeitsfeld nannte, sollte sich auf alle Lebensbereiche erstrecken.
Den Begriff „Psychotechnik“ hatte Stern im Jahr 1903 eingeführt – zur Unterscheidung von „Psychognostik“, der „Mensch-Erkennung“. Stern verstand unter Psychotechnik die „Wissenschaft von den psychischen Tatbeständen, die für praktische Anwendungen in Frage kommt“.
Was den Psychologen klar war: Menschen verfügen über unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten. Und technische Apparate sollten das messen können. Die „Psychognostik“, so Sterns Forderung, sollte der psychologischen Beurteilung, die Psychotechnik als „Wegweiser für die psychologische Einwirkung“ dienen. Für Hugo Münsterberg, den jungen Harvard-Professor, ging es darum, geeignete Personen fürs Führen der Straßenbahnen zu finden, um Auslese für bestimmte Tätigkeiten und Arbeitsfelder überhaupt. Er beschäftigte sich mit Monotonie am Arbeitsplatz und entwickelte bald weitere Berufseignungstests: für Schiffsoffiziere, für Telefonistinnen. Denn das „Fräulein vom Amt“ musste in den Anfangszeiten der Telefonie nicht nur schnell und richtig am großen Klappschrank von Hand die Fernsprechverbindung schalten. Sondern auch ein gutes Gedächtnis für Zahlenfolgen haben und dazu deutlich sprechen können – und vor allem die verschiedenen Dialekte der Anrufer verstehen.
Rund 4500 Apparate in der Sammlung
Frühe Chronoskope aus dem 19. Jahrhundert, mit denen Reaktionsexperimente gemacht werden konnten, weil die Uhr Millisekunden anzeigte, Pulsschreiber, mit denen man die Pulsfrequenz messen konnte, Apparate für Geschicklichkeitstests, Messinstrumente, Laborgeräte – das Adolf-Würth-Zentrum hat rund 4500 psychologische Apparate in seiner Sammlung. Viele Forschungsinstrumente aus der Gründungszeit der psychologischen Laboratorien, Experimentalapparate, Unikate, Serienprodukte – „es ist“, sagt Stock, „die umfangreichste Sammlung ihrer Art in der Welt“.
Und viele der Geräte, die in den frühen Jahren der Psychotechnik und später in der angewandten Psychologie zum Einsatz kamen, sind jetzt in der Ausstellung am Würzburger Pleicherwall zu sehen. Hugo Münsterberg, dem Wegbereiter, war es darum gegangen, die Psychologie für das Wirtschaftsleben und die Industrie nutzbar zu machen. Dabei setzte er, um die Tauglichkeit der Kandidaten für bestimmte Anforderungen herauszufinden, auf Simulationen der Tätigkeiten im psychotechnischen Labor.
Der Erste Weltkrieg als Treiber
„Im Ersten Weltkrieg wird es dann bedeutsam“, sagt Stock. Eignungsprüfungen für Richtkanoniere, Tests für Kraftfahrer, für Schützen, für Flieger – je technisierter und motorisierter der Krieg wurde, desto unterschiedlicher wurden die Anforderungen an die Soldaten. Kraftfahrzeuge, Flugtechnik, Funk – aus dem Zivilleben gab es damit kaum Erfahrung. Psychotechniker aller kriegsführenden Nationen arbeiteten deshalb daran, Ausleseverfahren für die neuen Waffen- und Transporttechniken zu entwickeln.
Hören und sehen, reagieren und konzentrieren
An der 1915 von Walther Moede eingerichteten psychotechnischen Prüfstelle des deutschen Heeres prüfte man Kriegsinvalide auf ihre Fahrtüchtigkeit: Es galt, Leute zu finden, die möglichst schnell zum Kraftfahrer angelernt werden konnten. Moede entwickelte eine „Aufmerksamkeitsreaktionsprobe“, in der die Kandidaten möglichst realistische Aufgaben erledigen mussten.
Seh- und Hörfähigkeit, Gelenkempfindungen, Aufmerksamkeitsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Ermüdbarkeit, Erregbarkeit – am Ende des Krieges gab es in Deutschland 14 psychotechnische Prüfstellen allein für Kraftfahrer, die über 10 000 Eignungsprüfungen gemacht hatten.
Je höher die Opferzahlen, je aufreibender und verlustreicher die Grabenkämpfe, desto notwendiger wurde es, die Truppen „effizient“ einzusetzen. „Hinzu kamen besonders nach dem Krieg apparative Auslesemethoden, um die psychisch und physisch Kriegsversehrten schnell wieder ins Berufsleben zu bringen“, sagt Stock.
In Berlin-Charlottenburg gründete Walter Moede 1918 das „Institut für industrielle Psychotechnik“, das zur führenden Ausbildungsstätte für Psychotechniker wurde. Vor allem Ingenieure trieben die Anwendungsmöglichkeiten in Deutschland fortan voran.
Und Psychologe Fritz Giese schlug die Unterscheidung in „Subjekt-“ und „Objektpsychotechnik“ vor: Während die eine Menschen nach ihren Fähigkeiten selektierte und nach geeigneten Kandidaten für besondere Fertigkeiten fragte, versuchte die andere, Arbeitsplätze und Arbeitsgeräte „an den
Menschen anzupassen“. Objektpsychotechnik, so Stock, „ist quasi das, was wir heute Ergonomie nennen“.
Die Bahn ließ alle Mitarbeiter testen
Da sich die Psychotechnik im Krieg bewährt hatte, wurde sie 1919 per ministeriellem Erlass zur Pflicht bei der Bahn. Alle Bewerber wurden psychotechnisch begutachtet, vom Zugführer über den Schrankenwärter und den Fahrkartenverkäufer bis hin zum Hemmschuhleger. Was der können musste, um für die Rangierarbeiten am Gleis als tauglich zu gelten, können die Besucher im Adolf-Würth-Zentrum selbst ausprobieren.
Überhaupt sind einige der alten Fahr- und Flugsimulatoren noch voll funktionstüchtig und für die Ausstellung in Betrieb. Und wie für den Bahnverkehr wurde die Psychotechnik auch zur Auslese von Fliegern und Flugpersonal immer häufiger eingesetzt – und bald auch sehr intensiv in der Wirtschaft.
Aus der Psychotechnik wurde die „angewandte Psychologie“
Die einst von William Stern programmatisch geforderte Psychotechnik wurde so in vielen Weiterentwicklungen zum festen Bestandteil vieler Lebensbereiche – bis heute. Der von Stern vorgeschlagene Begriff konnte sich international allerdings nicht dauerhaft durchsetzen. Ab Mitte der 1950er Jahre sprach man statt von Psychotechnik schlicht von der „angewandten Psychologie“.
Geschichte der Psychologie
Das Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie am Pleicherwall 1 in Würzburg sammelt das Erbe des Faches, bewahrt es und macht es Wissenschaftlern in aller Welt sowie der interessierten Öffentlichkeit so weit wie möglich zugänglich.
Als zentrale Einrichtung der Universität Würzburg verfügt das Zentrum über umfangreiche Literaturbestände, eine große historische Apparate- und Instrumentensammlung, ein Testarchiv, zahlreiche Ton- und Filmdokumente, eine wehrpsychologische Sammlung und etliche Nachlässe. Rund 1000 Besucher kommen jedes Jahr – die Hälfte davon stammt aus den USA.
Die Ausstellung „Psychotechnik – eine junge Wissenschaft findet ihre Anwendung“ zeigt zahlreiche psychotechnische Apparate, Fotos und historische Filme aus unterschiedlichsten Anwendungsbereichen. Viele Apparate darf man selbst ausprobieren. Der Besuch der Ausstellung samt Führung ist kostenfrei, Spenden sind aber sehr willkommen. Nötig ist nur eine Anmeldung und Terminvereinbarung vorab: Tel. (0931) 31-88683, E-Mail: awz@uni-wuerzburg.de