Dieser Psychothriller hat es in sich. Die drei Protagonisten – Judith, Thomas und eine Uhr – spielen sich beständig gegeneinander aus und das einzige, worauf man sich als Zuschauer wirklich verlassen kann, ist die Uhr: Sie tickt und tickt unaufhaltsam. "Heilig Abend" von Daniel Kehlmann hatte am Donnerstag Premiere im Torturmtheater Sommerhausen.
Die Handlung selbst ist so banal wie aufregend: Ermittler Thomas (Christian Buse) arbeitet sich – an Heilig Abend – an der Philosophie-Professorin Judith (Judith Riehl) ab. Sie soll als Terrorverdächtige etwas mit einer Bombe zu tun haben. Welche Bombe? Und warum eigentlich genau sie? Das sind nur zwei der zahlreichen Fragen, die das Stück aufwirft und für die es selten Antworten findet. Es geht um individuelle Freiheit versus staatliche Überwachung und Sicherheit, um die Frage nach der Angemessenheit von Gewalt und vor allem um Wahrheit und Täuschung.
Die karge, auf das Wesentliche reduzierte Inszenierung von Eos Schopohl im Foyer des Theaters, im coronagerechten Setting, fördert gezielt Unsicherheit, Unwohlsein und Orientierungslosigkeit des Zuschauers. Wer hat hier eigentlich Recht? Spielt Judith wirklich mit offenen Karten? Dass die Figuren in ihren Absichten so undurchsichtig bleiben, ist beeindruckendes Verdienst der Schauspielenden, die sich beide vielgesichtig und vielschichtig zeigen.
90 verbleibende Verhörminuten sind etwa 90 gespielte Minuten
Während zu Beginn klar der Ermittler die Handlung führt, kehrt sich nach etwa der Hälfte der Zeit der Spieß um. Dass Judith Riehl Christian Buse um einige Zentimeter überragt, kommt gegen Ende besonders zum Tragen, wenn dem Ermittler langsam die Fäden entgleiten. Die Entwicklung der Personen, wie sie im Dialog von Daniel Kehlmann angelegt ist, wird zum lebendigen und feurigen Duell. Riehls Judith verhält sich von stoisch über hysterisch bis bedrohlich, während Buses Thomas brutal, grob und eiskalt berechnend rüberkommt.
Da das Stück in Echtzeit komponiert ist, fragt man sich als Zuschauer jedoch ab und an, wie realistisch die Anlage tatsächlich ist. 90 verbleibende Verhörminuten sind etwa 90 gespielte Minuten, in denen sich die beiden auch über verflossene Ehen und Kaffeetrinken unterhalten und sich einander mitunter sogar annähern. Die Geschichte entwickelt sich zwar folgerichtig, wirkt aber stellenweise nicht sehr authentisch.
Der Aktualität tut das keinen Abbruch: Unser politischer und sozialer Diskurs der vergangenen eineinhalb Jahre im Lichte von Corona und die großen Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit werden hier auf kleiner Bühne verhandelt. 2017, zur Erstaufführung, waren es terroristische Anschläge, heute kommt beispielsweise die Ungleichverteilung von Impfstoff hinzu. Also: unbedingt ansehen!
Das Stück läuft bis 31. Juli. Spieltage: Di.-Fr. 20 Uhr, Sa. 16.30 und 19 Uhr. Karten: kartenbestellung@torturmtheater.de oder Tel. (09333) 268