
Draußen ein leises Klappern am Postkasten. Werner Brauer stand am Fenster und grüßte kurz zur Zeitungsbotin hinaus, in den dämmernden Morgen hinein.
Also: Die Main-Post hereinholen, die Kaffeemaschine anwerfen. Ha! Die Kaffeemaschine! Ein Geburtstagsgeschenk seiner Kinder, voll bester Absichten und voll sensibler Elektronik. Und bei Eva, seiner Haushaltshilfe, da war das Wunderwerk heiß und willig, spotzte und zischte Cappuccinos und diese neumodischen Lattenkaffees heraus, dass die Milch nur so schäumte. Bei ihm aber – stets nur ein alarmierendes Blinken auf dem Display, eine Schreckensbotschaft: „Entkalkungsprogramm starten!“ Oder: „Brüheinheit reinigen!“ Natürlich auch jetzt wieder eine Fehlermeldung: „Tropfschale leeren!“
Entkalkungsprogramm starten! Es war einfach ein Miststück, unberechenbar bis tief ins Mahlwerk hinein, ein verchromtes, männerfeindliches Monstrum. Und „Tropfschale leeren!“ War das nicht eigentlich so ein laminierter Hinweis irgendwo in der urologischen Ambulanz?
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Er seufzte. Dann also die Tropfschale leeren und dabei schon einmal die Schlagzeilen überfliegen, vom 10.August, den Sport, die Todesanzeigen, vielleicht sogar in diesen komischen Sommerroman hineinlesen. Im Abfluss strudelten gerade die letzten Tropfen der Tropfschale hinunter, im Becken blieb ein schwärzliches Gekrümel. Das blieb immer, wenn alles hinuntergestrudelt war. Davongeflossen. Er seufzte wieder. Was war nicht alles verflossen in seinem Leben! Die Jahre, die Menschen, die – Brauers Hand fuhr zur Stirn empor – ja, auch die Haare. Und sein ansehnlicher Sportlerkörper, der war auch dahingegangen und hatte etwas eher Faltiges und Krümeliges zurückgelassen, voll langsam verfließender Erinnerungen. Nur die Erinnerung an 1956, die blieb. Würde bleiben bis zu seiner letzten Stunde. Die Erinnerung an jenen Freitag . . .
Der Vater war spät zurückkehrt am Donnerstagabend und hatte mit grimmigem Triumph seinen Hut auf den Kleiderständer gestülpt. „So! Erledigt ist sie, die Geschichte!“ Werner war nur dagesessen, die Ellenbogen auf den Resopaltisch gestützt, reglos, voll stumm verstockter Aufsässigkeit, und der alte Brauer war sehr heftig geworden über diesem wortlosen Widerspruch. „500 Mark hat der mich gekostet, dein offener Hosenlatz!
500 Mark!“ Und dann war er ganz dicht an den immer noch stumm Sitzenden herangetreten, zitternd vor Wut, die Halsadern dick wie Regenwürmer, und hatte Werner einen heftigen Schlag an die Schulter gegeben. „Jetzt kannst ordentlich die Händ´ wackeln lassen im Geschäft, bis der wieder reinverdient ist, der Zigeunerbankert!“
Werner war aufgesprungen, doch die Mutter hatte beschwörend die kleinen marzipanweißen Runzelhändchen erhoben. „Werner! Bitte!“ Und noch einmal: „Werner!“
Nun ja. Werner. Das war leicht gesagt. Konnte Werner Senior oder Werner Junior gelten. Nachdem schon der Großvater und der Urgroßvater Werner geheißen hatten, hatte der Vater bei dem Neugeborenen nicht lange überlegen müssen. Endlich ein Sohn! Fast keine Hoffnung mehr gehabt, nach den vier älteren Schwestern. Den vier untauglichen Schwestern. Untauglich, das Geschäft zu übernehmen.
ndlich ein Stammhalter, dem der Name weitergeben wurde wie ein Adelstitel, oder wie eine Blutkrankheit.
Jetzt war er aufgesprungen, der Stammhalter, mit seiner ganzen neunzehnjährigen Kraft. „Rühr mich noch einmal an,“ hatte er gesagt und den Vater von sich gestoßen, „noch einmal – und ich schlag dich tot.“
Davonrennen, die Haustüre ins Schloss krachen lassen, den klapprigen Bock aus dem Schuppen zerren und hinaus in die Sanderau radeln, das war eins. Dort gab es noch ein paar Trümmergrundstücke und Gartenhäuschen, oder wenigstens einen offenen Keller für die Nacht. Über dem Main konnte er die hell erleuchteten Charlott-Terrassen erkennen, oben das Käppele, links der Festungsberg. Kein Mensch würde ihn hier finden. Hatte ihn auch niemand gefunden, vielleicht auch keiner gesucht. Ob er kurz eingeschlafen war? Am nächsten Morgen jedenfalls gleich wieder aufs Rad, steifbeinig und verwüstet. Aber endlich klar im Kopf. Endlich wusste er, was er tun musste. Was für ein Idiot war er gewesen, was für ein Feigling! Jetzt aber! Wie ein Verrückter über die Löwenbrücke gerast, zum Zirkus hinüber. Gar nichts würde er erklären, oder gar nach blöden Abschiedsworten suchen – er würde Elisa einfach in seine Arme nehmen und nie mehr loslassen. Sie festhalten und mit ihr weggehen, weit weg. Vielleicht sogar … nach … Amerika! Amerika! Wo alles möglich war, wenn man jung war, und stark, und verliebt! Gab es etwas Lässigeres als die GIs, die auf der Kaimauer saßen, bis spät in die Nacht hinein? Die in jedem Tanzlokal standen, jeder Bar, immer die schönsten Mädchen im Arm, Kaugummi kauten, rauchten und Asbach Uralt tranken.
Wer wollte sie aufhalten – der alte Janko vielleicht? Der zahnlose Zirkuslöwe? Dem das Lager das letzte Mark aus den Knochen gezogen hatte? Mit einer Hand würde er ihn zur Seite schleudern, er, Werner, die blonde, rasend radelnde Bestie.
So trat er mit aller Kraft in die Pedale, fegte mit wirbelnden Unterschenkeln am Main entlang, eine herrliche Muskelmaschine, und jagte auf den Zirkusplatz, dass der Schotter unter den Reifen nur so spritzte.
Der Platz war leer.
Leer.
Fast leer.
Nur hinten waren ein paar Tauben flügelklatschend in den Himmel gestiegen und ganz am Rand bewegte sich eine gebuckelte Gestalt, gebeugt, schlurchend und am Boden herumschaffend. Im Näherkommen erkannte Werner einen dürren, ältlich wirkenden Mann in abgeranzten Wehrmachtsjacke, so dürr und ältlich und abgeranzt wie fast alle Männer hier in der Stadt. „Der Zirkus!“ Werner hatte es ihm entgegengeschrien.
„Wo ist der hin, der Zirkus?“
Der Abgeranzte hatte kaum aufgeblickt, weiter herumgefegt, schließlich aber doch den Kopf gehoben und etwas durch die Lippen gesprutzt: „Glebbst, ich bin der Kapo von denne? Von den Zirkusaffe und ihrer ganzen Baggasch?“
Werner hatte ihn am Ärmel gepackt, spürte, wie der morsche Stoff unter seinen Händen nachgab, und der Mann war zusammengefahren, als er Werners Gesichtsausdruck bemerkte. Er hob die Rechte, an der zwei Finger fehlten. „Ist doch net bös gemeint! Die sind halt weg, bestimmt schon seit gestern.“ Der Mist da am Boden, der wäre nämlich schon richtig kalt.
„Fort? Und wohin?“
Der Kriegsversehrte zuckte die Schultern. Wie er das wissen solle, bei dem fahrenden Volk? „Heut da, morgen fort.“ Er würde nur die Pferdeäpfel zusammenkehren, für seinen Schrebergarten.
Dann aber hatte er seine Unterlippe geknetet. „Aber irgendwas … irgendwas …“
„Was?“ hatte der Junge gebrüllt.
Laut gebrüllt. Aber alle Tauben schon weg.
„Irgendwas haben die gesagt …“
Werners Finger hatten sich noch tiefer in den Uniformärmel gegraben.
„Richtung Spessart, irgendwo Marktheidenfeld zu, genau, oder … - nää, nach Wertheim. Genau, nach Wertheim.“ So hatte der Mistsammler ergänzt und war zwei Schritte von Werner abgerückt. Das jedenfalls hätte er aufgeschnappt.
Wertheim?
Das waren mindestens 70 oder 80 Kilometer, am Main entlang – oder nur 30, wenn er direkt nach Westen fahren würde, über Höchberg aus der Stadt hinaus, dann Uettingen zu, Holzkirchen, schließlich bei Urphar wieder an den Fluss.
Schneller als jeder Gedanke hatte Werner sich auf den Drahtesel geworfen, war losgetrampelt und den Festungsberg nur so hinaufgeflogen. Die Beine wie rasend arbeiten lassen. Oben allerdings fast gekotzt vor Atemlosigkeit. Letzter Blick zurück auf die Stadt, die immer noch grau und gezeichnet unter ihm lag. So bald würden sie ihn hier nicht mehr zu Gesicht bekommen, oder sogar, hatte er durch die Zähne gepresst, nie mehr. Ohne Pause war er weiter geradelt, über die Landstraßen Richtung Wertheim. Dort mit brennenden Beinen beinah aus dem Sattel gefallen. An der Taubermündung zwei stille Angler. Aber nirgends eine Spur des großen, rotweißen, hundert Mal geflickten Zeltes.
"Zirkus? Hier bei uns?“ Die Männer am Ufer hatten noch nicht einmal die Ruten sinken lassen. Ein Zirkus wäre hier nicht. Höchstens – sie hatten gelacht – ab und zu mal ein Clown mit knallrotem Kopf. Werner hatte nichts erwidert. Nur ihren Eimer mit Rotfedern und Barschen, den hätte er am liebsten mit einem einzigen Fußtritt ins Wasser befördert.
Schließlich hatte er sich einfach auf einen der eisernen Poller gehockt und stundenlang in den Fluss gestarrt. Nur sitzen bleiben. Nicht nach Hause zurück. Niemals. Aber wohin? Ohne Elisa war Amerika bloß ein bunter Fleck auf der Landkarte. Werner saß da und ließ das dunkle Wasser fast bis an seine Füße schwappen. Dann waren da ein paar kräftigere Wellen ans Ufer gelaufen, hinterher ein kehliger Ruf:
„Ey! Bürschle!“
„Fang auf!“ – und zusammen mit dem Ruf kam auch ein aufgerolltes Seil geflogen.
Ein Gütermotorschiff war ganz langsam an der Anlegestelle geglitten, unter nachlassendem Lärmen, und stieß jetzt die letzten ordentlichen Rußschwaden in die Abendluft.
Werner stand mit dem Tau in den Händen und glotze verwirrt zu dem Binnenschiffer hinüber, der grinsend an der Reling stand. „Festmachen!“ brüllte er. „Aber dalli! Oder willst die Columbus die ganze Nacht so festhalten?“
Columbus?
Tatsächlich, am Bug der Namen, in leicht abgeblätterten hellen Buchstaben: Columbus.
Immer breiteres Schiffergrinsen. Den Palstek fürs Antäuen, den müsste er wohl noch üben. Aber im Vorschiff, da wäre noch eine Koje frei, für einen tüchtigen Decksmann.
Der Junge hatte das Tau ein paarmal um den Poller gewickelt und stand blinzelnd am Ufer: „Palstek? Vorschiff? Koje?“
Der Mann am Steuer hatte genickt, und dann von Amsterdam gesprochen, von Basel, von Bamberg, Städten am Wasser, wo Menschen zusammenkamen, und fahrendes Volk. Und von der Koje vorne im Bug.
Sicher – vom Fluss aus, da würde man ein rotweißes Zeltdach nicht übersehen können. Und Columbus? Klang das nicht beinahe schon wie Amerika?
„Also?“ hatte der Schiffer gefragt, breitbeinig an der Bordwand und Werner seine Hand entgegengestreckt. „Also?“
