Der Reise-Föhn schrie sein allmorgendliches Klagelied. Lautstark und etwas hektisch. Der viel zu kraftvolle Motor passte keineswegs in das kleine Kunststoffgehäuse. Die Folge war, dass die Finger nach kurzer Zeit glühten. Aber es interessierte niemanden. Keiner hörte mehr wirklich zu.
Eva hatte den Föhn besorgt. Ein günstiges und billiges Modell. Alten Leuten kaufte man keine hochwertigen Gegenstände mehr. Für die restlichen paar Lebensjahre schien dieses Gerät völlig ausreichend. Es war fünf Uhr morgens. Werner prüfte den Mann, den er da im Spiegel sah, kritisch. Die wenigen Haare saßen perfekt. Er konnte also das Leid des Föhns abkürzen. Eine kleine Portion Nivea-for-men-Creme verrieb er in seinen Händen und verteilte die Menge im Gesicht. Die Falten erhielten einen enormen Frische-Kick – so hatte es ihm die nette Verkäuferin im Drogeriemarkt erzählt und deshalb musste Werner es glauben.
Junge Leute hatten Visionen, die wichtig für ihre Zukunft waren. Die enttäuschende Realität wartete hinter jeder Ecke, häufig kam sie zum Vorschein, aber genauso oft spazierte sie einfach wortlos weiter. Deshalb brauchten Menschen immer neue Ideen, ohne sich unterkriegen zu lassen. Das junge Ding würde schon noch feststellen, dass Falten mit 82 Jahren nicht mehr zu bändigen waren.
Das war auch gut so. Sah man von den Schönheitsidealen ab, steckte hinter jeder einzelnen ein Stück erlebte Geschichte. Die Vergangenheit konnte niemand glätten, sie war unwiderruflich geschehen. Vieles erklärte sich erst hinterher und manches blieb für immer ein Rätsel.
Damals, im Sommer 1956
Damals, im Sommer 1956, gab es diese eine Begegnung, die Werners Welt auf den Kopf gestellt hatte. Mit einer Leichtigkeit war das dunkelblaue Kleid, getragen von einem großen, schlanken kakaobraunen Körper durch die Eisdiele in der Nähe des Grafeneckarts geschwebt. Sie hatte kaum Notiz von ihm genommen. Zu sehr war sie mit der Auswahl der Sorten beschäftigt. Aber als Werner dieses Mädchen sah, war er überzeugt gewesen: Sie beide würde niemals etwas trennen. Rasch zahlte er den Kaffee, von dem er nicht einen Schluck getrunken hatte. Hastig eilte er nach draußen, um ihr still und heimlich zu folgen.
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Sein Herz raste, Schweiß stand ihm auf der Stirn. So eine Tat hatte er bisher nicht einmal in Erwägung gezogen. Er kam bei den Ladys gut an, hatte eine derartige Anstrengung normalerweise nicht nötig. Was wäre, wenn sie sein unschickliches „Auflauern“ bemerken würde? Werner blieb stehen und überdachte sein Vorhaben. Die kurze Ablenkung genügte – er hatte das Mädchen verloren. Eine der schmalen Seitengassen der Domstraße musste die Schönheit verschluckt haben.
„Warte! Warte doch!“, rief er und wusste nur zu gut, dass sie es nicht hören konnte. Wo war sie? Er ging weiter Richtung Marktplatz zur Marienkapelle. Das gute Wetter hatte die Leute in die Würzburger Innenstadt gezogen. Werner lief gegen den Menschenstrom und hatte Mühe, weiter voranzukommen. Seine Größe war nicht immer ein Vorteil, die Mutter schimpfte, nie eine ordentliche Hose für den Sohnemann zu bekommen.
Heute konnte er über die vielen Köpfe gut hinwegsehen, sonst hätte er den Clown nicht entdeckt, dessen ruheloser Körper ein Plakat auf Brust und Rücken trug. Es kündigte den gastierenden Zirkus Janko auf den Mainwiesen in der Zellerau an, der damals dort für einige Monate seine Zelte aufgeschlagen hatte. Stolz zauberte der bunt gekleidete Mann ein Geldstück hinter dem Ohr eines Kindes hervor und rief dazwischen immer wieder Werbeparolen.
Auf seinem Rücken lachte eine exotische Prinzessin
Auf seinem Rücken lachte eine exotische Prinzessin namens Elisa Werner an. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einem Dutt frisiert und hoben sich zum rosa Kostüm mit silbernen Pailletten besonders gut ab. Auffällig waren ihre blauen Augen – ein Mischling, wie die Leute solch ein Aussehen abfällig nannten. All das kümmerte ihn nicht.
Werner konnte das Mädchen wiedersehen, und nur das zählte. Er kaufte ein Ticket für die Abendvorstellung. Was sein Vater dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sein Sohn zu einer Veranstaltung der Hottentotten ging. Der Krieg war seit Jahren vorbei – die Gesinnung in so manchen Köpfen war geblieben. Werner war jung, naiv und von der ersten Begegnung an in Elisa verliebt gewesen. Nicht im Traum hätte er in jenen Tagen geglaubt, wie diese Frau sein weiteres Leben beeinflussen könnte und er ihres. Wie sie damals mit Leichtigkeit hoch oben über den Zuschauern im Zelt turnte und grazil von der einen Schaukel zur anderen schwang – ebenso jung, naiv und nichtsahnend.
Dem Anschein nach lag ihr die Welt zu Füßen, doch es war die Zeit der Patriarchen-Väter. Zum Abschluss der Show hatte Elisa die Gäste mit ein paar Kunststücken auf einem Elefanten verzaubert. Der Zirkusdirektor war mit der Darbietung seiner Tochter sichtlich zufrieden gewesen und belohnte sie stolz mit einem Kuss auf die Stirn. Elisa – der Name ihrer deutschen Mutter, die im Kindsbett gestorben war.
Er hasste die Deutschen für die eintätowierte Nummer
Er hasste die Deutschen für die eintätowierte Nummer an seinem Arm und er nahm es dem Schicksal übel, dass seine Frau hatte sterben müssen. Sie traten hier nur auf, weil seine Tochter wenigstens ein einziges Mal die fränkische Heimat der Mutter kennenlernen wollte. Er fühlte sich dabei als Verräter an seinem eigenen Volk, an den Sinti und Roma. Die große Wunde einer ganzen Generation heilte in diesem Leben nicht mehr. Vergessen und vergeben – dafür war das Gemüt von Janko nicht gemacht.
Schwerfällig zog Werner das frisch gebügelte weiße Hemd an. Für seine Wäsche war er selbst verantwortlich. Eva hatte ihm nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren viele Tätigkeiten im Haushalt beigebracht. Kleine Mahlzeiten konnte er sogar kochen. Das Haus hielt eine Putzfrau sauber. Einmal die Woche kam Eva und sah nach dem Rechten, was auch immer das konkret war, das Rechte. Werner war alt, da passierte nicht mehr allzu viel. Zum Glück war er bisher gesund geblieben und so traf er zweimal die Woche einen Freund zum ausgiebigen Spaziergang am Main Richtung Sommerhausen.
Jedes Mal war er aufgeregt. Die Erinnerungen an diesen Weg wärmten sein Herz.
Elisa. Für immer Elisa.
Kurz vor Randersacker hatten sie sich das erste Mal geküsst. Er hatte ihr eine rote Rose mit einer Nachricht in die Garderobe gelegt. Er bat sie um ein Treffen. Zu seiner großen Freunde kam Elisa ins Eiscafé – dem Ort, an dem er sie zuerst gesehen hatte. Bereits in der Vorstellung war ihr der groß gewachsene, kräftige Mann – ein typisch deutscher Fritz – aufgefallen. Blondes Haar, blaue Augen und dazu auch noch klug, hatte Elisa bei ihrem Rendezvous festgestellt.
Werner stammte aus einer Kaufmannsfamilie
Werner stammte aus einer Kaufmannsfamilie – Geld war also auch da. Was konnte ein Fräulein mehr erwarten. Der Sommer hatte nicht gegeizt und verwöhnte mit all seinen Reizen: Sonnenschein, satte Wiesen und warme Temperaturen. Elisa und Werner schwammen im neu eröffneten Dallenbergbad um die Wette, alberten herum und erzählten einander Geschichten aus ihren unterschiedlichen Welten. Jedes Mal, wenn Werner Blumen zu den Verabredungen mitbrachte, bedankte sie sich mit: „Für Elisa? Danke!“ Werner fand das äußerst entzückend. Dank Balboa, einer kräftigen, in die Jahre gekommene Kriegswitwe, die nichts und niemand mehr in ihrem Geburtsort Kitzingen hielt, konnte Elisa Deutsch sprechen, wenn auch mit Defiziten.
Eigentlich hieß Balboa Barbara, aber diesen Namen konnten die kleinen Zirkuskinder nicht aussprechen. Sie unterrichtete ihre Zöglinge in Mathematik, Geschichte und heimlich in ihrer geliebten Muttersprache Deutsch. Was konnte ein Herr Schiller oder Herr Goethe für die Verbrechen der Nazis? Mit ihrem Rocksaum trocknete Balboa die ein oder andere Träne, wenn der Herr Direktor Strenge walten ließ.
Werners Alltag war im Vergleich zu dem eines fahrenden Volkes langweilig gewesen. Er assistierte dem Vater in der Buchhaltung. Porzellanwaren Brauer hatte den Ersten und den Zweiten Weltkrieg überstanden. Ein Familienbetrieb mit Tradition und Verbindungen, wie eine Schachtel mit gewissen Orden und Auszeichnungen, gut versteckt auf dem Dachboden, bezeugte. Manchmal nahm der Vater Werner mit zu einer Geschäftsreise. Insgeheim hatte er noch nicht mit dem Wunsch, Sportlehrer werden zu dürfen, abgeschlossen. Der Vater ließ ihm aber wenig Freiraum für eigene Entscheidungen. Natürlich hatten die frisch Verliebten Dinge getan, in denen sie völlig unerfahren waren – die Leidenschaft füreinander war groß. Woher hätte ein katholisch erzogener Jüngling denn wissen sollen, „wie es geht“? Elisa wurde schwanger mit gerade einmal 17 Jahren. Ein Skandal. Sie vertrauten auf Balboa. Sie kannte jemanden, der jemand kannte, der Frauen, ohne Fragen zu stellen, half.
Werner war das falsch vorgekommen
Werner war das falsch vorgekommen. Er liebte Elisa und wollte sie heiraten. Also nahm er all seinen Mut zusammen und hielt bei Janko um die Hand der Tochter an. Mit fatalen Folgen. Balboa war wie ein Engel gewesen, immer zur rechten Zeit zur Stelle, sonst hätte der Zirkusdirektor Werner totgeschlagen. Mächtig Ärger hatte es auch von der eigenen Familie gegeben. Werners Mutter heulte, der Vater war mehr als nur enttäuscht. Werner habe die Familie entehrt und einer dreckigen Hure ein Kind gemacht. Er bäumte sich zum ersten Mal gegen den Vater auf. Wie konnte der nur so über Elisa sprechen?
Als sich die Wogen etwas geglättet hatten, regelte der Vater das „Anliegen“. Der Kaufmann Brauer zahlte eine mächtige Summe an Janko, und der Zirkus war am nächsten Morgen verschwunden. Als hätte es ihn nie gegeben. So war der Vater gewesen. Probleme löste er mit der Brieftasche oder dem Scheckbuch. Das junge Paar hatte sich nicht einmal mehr voneinander verabschieden können.
Fortsetzung folgt.