Beim vierten Anlauf hat es endlich geklappt: Seit März 2020 funkte der geplanten Lesung von Dunja Hayali beim Literaturfestival MainLit immer wieder Corona dazwischen; zwei Jahre später erwartete die Journalistin und TV-Moderatorin (ZDF-Morgenmagazin, ZDF-Sportstudio) in der Würzburger Johanniskirche ein volles Haus.
Hayali las aus ihrem 2018 erschienenen Buch "Haymatland: Wie wollen wir zusammenleben?" – und ließ das Publikum auch intensiv an ihren Gedanken zum Ukraine-Krieg teilhaben, der, wie sie eindrücklich erinnerte, "nicht der erste Krieg seit 1945" ist. "Wir können nicht einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert", so Hayali, die einen Kapuzenpulli mit dem Hashtag #WeAreAllUkrainians trug und zu einem Moment des Innehaltens aufrief.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und der Corona-Pandemie sind die Themen und Fragen, die "Haymatland" aufgreift, aktueller denn je: Es geht ums Zusammenleben, um Streitkultur und die Werte unserer Gesellschaft. "Heute erfüllt mich mehr denn je die Sorge, ob wir es schaffen werden, dieses Land so lebenswert zu halten, wie es ist - und zwar für jeden. (...) Wachsende Extreme an den politischen Rändern, dumpfe Parolen und sogar Gewalt gewinnen sichtbar an Terrain", schreibt sie im Intro ihres Buches. Frieden und Freiheit seien nicht selbstverständlich und fielen uns nicht dauerhaft in den Schoß.
Woher kommt die Spaltung in unserer Gesellschaft? Wie stellen wir sicher, dass die im Grundrecht verankerte Meinungsfreiheit nicht missbraucht wird? "Mein Job als Journalistin ist es Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben, Gott sei Dank", sagte Hayali – und versuchte es anschließend zwei Stunden lang doch.
"Alles, was Sie heute hören, ist meine Meinung", betonte die 47-Jährige zu Beginn ihrer Lesung – und setzte mit der Unterscheidung zwischen "Meinung" und "Haltung" gleich einen wichtigen Denkanstoß des Abends. "Seine Meinung kann man auch mal ändern", so Hayali. "Haltung dagegen sitzt tiefer, sie ist wie ein inneres Gerüst, an dem man sich festhält." Vor diesem Hintergrund erklärte Hayali, wie sie, die in den sozialen Medien, aber auch im realen Leben immer wieder Anfeindungen und Hassnachrichten ausgesetzt ist, mit Andersdenkenden umgeht – und was ihrer Meinung nach zu einer Wiederherstellung des sozialen Friedens beitragen könnte.
1. Miteinander reden statt direkte Ablehnung
Menschen mit einer anderen Meinung als die eigene einfach abzulehnen, könne die Spaltung in unserer Gesellschaft verstärken, so Hayalis Überzeugung. "Ablehnung führt zu Unsicherheit – und einem Gefühl von 'die gegen uns'". Das Resultat könne eine steigende Gewaltbereitschaft sein, die Rechtsradikale nutzen, um ihre Ziele durchzusetzen. "Die Aushöhlung der Demokratie hat bereits in Teilen stattgefunden, das lässt sich nicht wegträumen", warnte Hayali. Man müsse darüber reden, warum gewisse Dinge, die lange undenkbar und unsagbar waren, inzwischen salonfähig seien. Klar sei: Hass und Hetze hätten nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. "Bei Stuss muss ich nicht zuhören – damit schränke ich die Meinungsfreiheit meines Gegenübers nicht ein", betonte Hayali. Und: "Sie können eine eigene Meinung, aber nicht eigene Fakten haben."
2. Grautöne zulassen statt Schwarz-Weiß-Denken
Als Problem sieht Hayali das Bestätigungsdenken "in unserer nicht vorhandenen Streitkultur". Eine abweichende Meinung als die eigene sei für viele schwer aushaltbar; sich in einer Diskussion darauf zu einigen, dass man sich nicht einig sei, oft unmöglich, so Hayali resigniert. Dabei helfe es, nicht nur schwarz-weiß zu denken, sondern auch Grautöne zuzulassen. Ehe man Position beziehe, lohnten sich auch folgende Fragen: "Kann ich Zeit haben, um über Dinge nachzudenken? Kann ich auch mal keine Meinung haben, weil das Thema nicht mein Tanzbereich ist?" Generell versuche Hayali, Menschen ernst zu nehmen, "auch wenn mir ihre Meinung nicht passt".
3. Auch mal fünfe gerade sein lassen
Im Umgang miteinander spiele auch der Ton und die Absicht des Gegenübers eine Rolle. So sei es wichtig, herauszufinden, worum es demjenigen geht, ehe man ihn in sofort in eine Schublade stecke. "Nicht alle haben das verdient und werden dann verunsichert. Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen", so Hayali. Wenn sie gefragt werde, wo sie herkomme, und den Fragenden ihre Antwort "aus Datteln" (ihr Geburtsort) nicht zufriedenstellt, weil er eigentlich die Herkunft ihrer Eltern wissen wollte, versuche sie, die Frage entspannt zu nehmen. Klare Grenzen gebe es trotzdem, betonte sie und nannte als Beispiel: "Wir sind uns einig, dass wir das N-Wort nicht mehr benutzen."
4. Die eigene Meinung ändern können
Im Umgang mit anderen wirbt Hayali auch für Beweglichkeit beim Blick auf die eigene Meinung. Ein Thema, das seit einer Weile polarisiert, ist das Gendern. "Haymatland" ist im generischen Maskulinum geschrieben, sie selbst habe zu Beginn ihrer Lese-Tour nicht gendern wollen, erinnert sich Hayali. Inzwischen tut sie es sehr geschmeidig: "Wir sind in einer Findungsphase, lassen Sie uns schauen, wo uns das hinführt." Nicht nur bei diesem Thema plädierte Hayali für einen gewissen Pragmatismus: "Müssen wir wirklich immer wie zwei Lkws aufeinander zurasen?"
5. Aufstehen, wenn Menschen diskriminiert werden
"Sie alle wissen, wie es sich anfühlt, gemobbt zu werden - ob als "der Dicke" oder "die Rothaarige", sagte Hayali. Wer in unserer Gesellschaft aber zum Beispiel ein Kopftuch oder eine Kippa trage, sei in vielen Fällen Diskriminierung ausgesetzt, und das rund um die Uhr. "Stehen Sie auf, wenn Leute in Ihrer Gegenwart angefeindet und diskriminiert werden", appellierte Hayali an die Zuhörer. Schweigen habe noch niemandem geholfen, das zeige auch der Blick auf die Vergangenheit Deutschlands.
"Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber diese ist die unsere", schloss Hayali mit einem Zitat von Jean-Paul Sartre die Lesung. "Und er hat recht. Es geht jetzt um was. Es geht um uns."