Schwarze Tafeln mit weißen Zahlen, Linien und Symbolen. Als sei man ins Studierzimmer eines Alchemisten geraten, der geheimnisvolle Zusammenhänge erforscht. Doch dies hier ist der nüchterne Orgelsaal der Würzburger Hochschule für Musik, und Christoph Bossert, der die Tafeln aus seiner Musikakademie in Rehweilermitgebracht hat, um seine Theorien zu erläutern, ein seriöser Forscher und kein Esoteriker.
Der Würzburger Professor für Orgel und Kirchenmusik hat im Werk von Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750) ein umfassendes mathematisches Code-System entdeckt. Der Barockmeister habe damit nicht nur Bibelworte und theologische Aussagen in seinen Noten verschlüsselt, sondern auch existenzielle Ereignisse seines Lebens, lautet Bosserts These. Zentral sei die a-Moll-Fuge aus dem „Wohltemperierten Klavier“ Teil eins. Zählt man alle Takte des 1722 vollendeten Zyklus von Takt eins an durch, fällt auf Takt 26 der Fuge der Gesamttakt 1684, auf Takt 62 der Fuge der Gesamttakt 1720. Die Zahl 26 decke sich mit dem Zahlenwert der Schreibweise des sogenannten Tetragramms JHWH – es steht für den Gottesnamen Jahwe – und symbolisiere „das Leben, das von Gott kommt“, so der Professor.
Der Kehrwert von 26 ist 62 – Leben verkehre sich in Tod. Bossert: „Die gleiche Spanne, die zwischen 26 und 62 liegt, liegt auch zwischen den Zahlen 1684 und 1720, die für Bach bedeutsam waren: Es ist die Lebensspanne von Bachs Ehefrau Maria Barbara. Im Gesamttakt 1720 steigt eine Tonleiter nach oben und bricht in der Taktmitte ab – Bachs Ehefrau starb in der Jahresmitte 1720.“ Maria Barbara war während Bachs Abwesenheit gestorben. Der Musiker erfuhr vom Tod seiner Frau erst, als er von einer Karlsbad-Reise ins heimische Köthen zurückkam.
Im Zentrum steht ein Psalm
Mehr noch: „Zu dem Denkmal, das Bach seiner Frau setzen wollte, kommt eine theologische Aussage, die der Komponist in einem Themenauftritt formuliert.“ Zähle man nur die Takte der a-Moll-Fuge, finde eine auffällige Variation des Themas in der zweiten Hälfte von Takt Nummer 59 statt – dem Gesamttakt 1717. Rechnet man dementsprechend nicht ganze, sondern halbe Takte, finde jene „gravierende, regelwidrige Abweichung“ in der „118. Halben“ (Bossert) der Fuge statt. Das Thema trete hier zum 22. Mal auf. Es gebe also zwei Zahlen: 118 und 22.
Bossert griff zur Bibel, denn „das Wort der Heiligen Schrift war für Bach Ausgangspunkt“. Der Professor und Dr. h. c. durchforstete Altes und Neues Testament nach passenden Kapitel- und Verszahlen und landete bei Psalm 118, Vers 22: „Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden.“
Dieser Psalmenvers ist, laut Bossert, dann „Ausgangspunkt für jene Strecke an Musik, die zum Gesamttakt 1720 hinüberführt“. Und er sei, so der Würzburger Kirchenmusiker, eine zentrale Aussage des Alten Testaments zu Christus. Psalm 118, 22 werde auch im Neuen Testament zitiert: Die Apostelgeschichte (4,11) legt den Vers Petrus in den Mund, der ihn auf Jesus bezieht.
Die Rechnerei geht weiter: 59 sei der Zahlenwert der Worte „Agnus“ (Lamm) und „Gott“, so Bossert. Er arbeitet hier mit einer uralten Technik, bei der Buchstaben Zahlen zugeordnet werden (1 für a, 2 für b, 3 für c, 9 für i und j) und so weiter). „Agnus“ ist also 1+7+13+20+18, „Gott“ 7+14+19+19. In der Summe ergibt beides 59 – die Nummer des Taktes in der a-Moll-Fuge mit der markanten Variation.
Die „göttliche Zahl“
Diese Zahlenspiele sind nur ein kleiner Ausschnitt aus Christoph Bosserts umfassendem Gedankengeflecht. Codiert in dem Zyklus aus je 24 Präludien und Fugen findet der renommierte Kirchenmusiker zum Beispiel auch die Zahl 46, die „göttliche Zahl“. Der Codeknacker verweist auf den Tempel des Herodes, der laut Johannes-Evangelium (2,20) in 46 Jahren errichtet wurde. Jesus sagt: „Brechet den Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes kommentiert: „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“, bezieht die Aussage also auf die Auferstehung am dritten Tag – das zentrale Credo des Christentums.
Bosserts Schautafel zum „Wohltemperierten Klavier I“ ist übermannshoch und voller Linien, die die komplexen Querverbindungen grafisch verdeutlichen sollen. Und der Zyklus ist nur eines der Werke, die, laut Bossert, in den großen Zusammenhang gehören, der durch eine übergeordnete Zahlensymbolik zusammengespannt wird. Diese Werk-Gruppe sei etwa durch „signifikante musikalische Verwandtschaften“ miteinander verknüpft und reiche bis zu Bachs letzter Komposition, der „Kunst der Fuge“.
Böse Zungen könnten behaupten, Bossert klaube sich aus dem reichen Schaffen Bachs – das Werkverzeichnis listet 1080 Kompositionen auf – das heraus, was zu seiner Theorie passe. Dann ziehe er so lange Quadratwurzeln, dividiere, multipliziere, und addiere, bis er bei einer Bibelstelle herauskomme. Die Bibel wiederum ist ein sehr dickes Buch, aus dem sich bei gutem Willen nahezu alles herauslesen lässt (was ja seit Jahrtausenden praktiziert wird). Zudem ist das menschliche Gehirn so konstruiert, dass es auch dort Muster findet, wo gar keine sind . . .
Kathedralen aus Musik
Christoph Bossert kennt derartige Einwände, seit er sich seiner Theorie widmet, was er intensiv seit zwölf Jahren tut. Mit der Bach-Analyse beschäftige er sich gar sein Leben lang. „Ich entdecke Indizien und gehe Spuren nach“, beschreibt er seine generell wissenschaftliche Vorgehensweise.
Von Bachs Hand sind unmittelbare Beweise für die Bossert'schen Theorien nicht überliefert. Allerdings gebe es Eintragungen in seine Arbeitsbibel. Klar ist immerhin, dass der Musiker in einer Symbol-verliebten Zeit lebte, in der auch Maler Aussagen hinter der Oberfläche versteckten. Und schon Jahrhunderte vorher wurden Kathedralen nach „heiligen Zahlen“ aus der Bibel gebaut. In diesem Sinne hätte Bach Kathedralen aus Musik errichtet.