Christoph Bossert öffnet eines der kleinen Fenster. Vogelgezwitscher. Wind in den Bäumen. Der Blick schweift über Wälder, Wiesen, weites Land. Als ob Technik, Hektik und modernes Leben hier schlichtweg nicht existierten. Nur ein paar Kilometer entfernt lärmt die chronisch überlastete Autobahn A 3, rangieren Schwerlastwagen vor der betriebsamen Raststätte Geiselwind. Doch hier, in dem 250-Seelen-Ort Rehweiler, herrscht Ruhe. Als habe der Automobilist irgendwo auf dem verschlungenen Bergsträßchen von Abtswind herauf unbemerkt ein Tor in eine andere Zeit passiert.
„Ja, es ist ein Traum“, bestätigt Christoph Bossert, um gleich nachzuschieben: „Jetzt. Jetzt tut's mir auch gut“. In den vergangenen Jahren gingen Handwerker ein und aus, um das Haus aus dem 17. Jahrhundert nicht nur auf Vordermann zu bringen, sondern es auch für einen ganz bestimmten Zweck einzurichten, ohne die Atmosphäre zu zerstören: Hier wird Musik gemacht. Und zwar auf – überwiegend sperrigen – Tasteninstrumenten.
Christoph Bossert ist Professor für Orgel und Kirchenmusik an der Würzburger Hochschule für Musik. Das Haus in dem Geiselwinder Ortsteil soll aber nicht nur der Profession und der Leidenschaft des 1957 in Schwäbisch Hall geborenen Dr. h. c. dienen. Es soll Treffpunkt und Ausbildungsstätte werden. Für seine Studenten von der Hochschule, für Tagungen und Kurse – Bossert kann eine Liste namhafter Dozenten vorweisen – und auch für Konzerte. „IMAR“ hat Bossert die Privatinitiative genannt: „Internationale musikalische Akademie Rehweiler“. Offiziell werden Haus und Akademie am 12. Juni eingeweiht, mit Führungen, Vorträgen und zwei Konzerten (17 und 20 Uhr).
Große Sinfonik
Drei Orgeln stehen derzeit in den renovierten Räumen, verteilt auf Etagen und Zwischengeschosse. Bossert setzt sich an die Walcker-Orgel von 1877 im Erdgeschoss, spielt Romantisches, dreht sich auf der Orgelbank um, blickt in den Raum und freut sich schon auf das Orgelharmonium von 1890 – 3,20 Meter hoch und das einzige seiner Art. Es soll in der zweiten Jahreshälfte im rechten Winkel zur Walcker.Orgel aufgebaut werden. Mit beiden zusammen könne man dann auch große Sinfonik spielen. „Ich nenne das die Rehweiler Symphoniker“, sagt Bossert und grinst fröhlich unter dem grauen Vollbart.
Offene Treppen machen den restaurierten historischen Bau luftig und bieten doch intime Rückzugsräume. Bei Zuhörern wie Spielern sorgt das für ein etwas anderes Musikerlebnis. Gerade bei Orgelkonzerten, die ja meist in Kirchen stattfinden, sind Instrument, Spieler und Publikum entkoppelt. Rehweiler bietet „Salonatmosphäre“, wie Bossert das nennt. Geschmackvoll-nostalgische Möblierung und Jahrhunderte alte Balken tun ein Übriges. Wenn alte Instrumente eine Seele haben – es gibt genügend Musiker, die das glauben – dann fühlen sie sich hier wohl.
Bossert führt ein Pedalklavier vor („hier spielen wir auch Jazz“), steigt hinauf zur nächsten Orgel, spielt, bittet den Besucher, in einen anderen Raum zu gehen, um den Tönen von dort aus nachzuspüren, holt silbrige Klänge aus einem Clavichord, lässt den Nachbau einer Prozessionsorgel von ca. 1560 singen und sich vom Klang eines Klaviers von 1840 mitreißen. Um das zu kriegen, musste er dem Klavierbauer auch noch ein zweites Instrument abnehmen: „Ich konnte nicht nein sagen . . .“ In Rehweiler soll auch Kulturgut erhalten werden. Mag es auch das Bossert'sche Konto belasten.
Bachs Zahlensymbolik
Neben dem emotionalen Musiker gibt es auch den Intellektuellen Christoph Bossert, der mit vierstelligen Zahlen operiert: Seit zehn Jahren ist der Professor auf der Spur von Johann Sebastian Bachs Zahlensymbolik. Bossert weiß, dass er damit bei manchen Musikwissenschaftlern auf Skepsis stößt. Doch er glaubt auch, gute Argumente zu haben, die auf sicheren Prämissen stehen. Er ist sicher, dass die Entschlüsselung der Zahlensymbolik Bachs Werk besser verständlich macht, und dass es sich lohnt, „einen Diskurs anzuregen“.
Das alte Gutshaus gleich neben der Kirche ist deswegen auch der Bach-Forschung gewidmet. Wenn irgendwo, dann lässt sich hier, in der Atmosphäre von Rehweiler, ein Gedankengebäude errichten.