Fünf wuchtige Platten bilden eine unüberwindliche Mauer vorn am Bühnenrand. Die Tänzerinnen und Tänzer müssen sich ihren Raum erst schaffen – sie arbeiten sich an der Barriere ab, bis es gelingt, die Platten zurück zu schieben. Aber was dann?
Ein starkes Bild gleich zu Beginn des Abends „Ludwigs Leidenschaften: Vier Mal Beethoven“ am Würzburger Mainfranken Theater. Ein starkes Bild und eine nicht übermäßig hintergründige Metapher zur Egmont-Ouvertüre, die ziemlich gedämpft aus dem Graben klingt. Erst später, zu Beethovens Fünfter, wird es Marie Jacquot und dem Philharmonischen Orchester gelingen, die Fußfessel der Graben-Akustik abzulegen und tatsächlich sinfonische Klänge in den Raum zu schicken.
Eine Zivilisation im Um- und im Aufbruch
Einstweilen taugt die Metapher mit der Mauer, um das Thema zu umreißen: Eine Zivilisation im Um- und im Aufbruch ist hier dargestellt, ähnlich der in Beethovens Wien zu napoleonischer Zeit – alte Autoritäten sind (vorerst) entmachtet, neue erheben wenig legitimierte Ansprüche, dazwischen eine Gesellschaft, die um Orientierung ringt. „Eine freidenkende, wilde, bunte Truppe versucht, sich in immer wieder neuen Formationen eine Struktur zu schaffen.“ So schreibt Jürgen Kirner, der Kostüme und Bühnenbild entworfen hat, im Programmheft.
Drei Choreografien zu vier Musikstücken haben Dominique Dumais und Kevin O'Day, das neue Leitungsduo der ebenfalls neuen Tanzcompagnie, geschaffen. In O'Days „Ouvertüren“ schiebt sich Henryk Góreckis „Quasi una fantasia“ von 1991 in die Egmont-Ouvertüre – kratzig-motorische Dissonanzen, die sich erkennbar auf Beethoven berufen und dennoch ihrerseits Ordnung aufbrechen. Kevin O'Day hatte schon zu Beginn der Proben für die Produktion „Chansons“, die Ende September zu Spielzeit eröffnete, Aufträge – Tasks – an die Tänzer vergeben. Etwa Bewegungen zu entwickeln, die sich mit einer Mauer auseinandersetzen. So ist das Bewegungsrepertoire entstanden, das nun zum Einsatz kommt.
Eine Truppe auffällig unterschiedlicher Individuen
Marcel Casablanca, Viola Daus, Debora Di Biagi, Étienne Gagnon-Delorme, Dominic Harrison, Ka Chun Kenneth Hui, Anna Jirmanova, Dávid Kristóf, Tyrel Larson, Katherina Nakui, Maya Tenzer und Clara Thierry bilden eine Truppe auffällig unterschiedlicher Individuen – ideale Voraussetzung für einen Abend, der sich mit dem Gegensatz (oder Miteinander) von Einzelnem und Gemeinschaft auseinandersetzt. Bei keinem anderen Komponisten der Wiener Klassik ist dieser Widerstreit so spürbar wie bei Beethoven, dem genialen Eigenbrötler, in dessen Musik doch immer das Bewusstsein einer höheren Gemeinsamkeit mitklingt, vielleicht des „Weltgeists“, um es mit Hegel zu sagen.
Und so ballen sich Gruppen und zerfallen wieder, finden sich Paare und trennen sich wieder, steigen Helden auf und stürzen wieder, brechen Ausreißer zusammen und werden wieder aufgerichtet. O'Day mischt in atemberaubender Folge tänzerische und akrobatische Elemente, lässt für einen Atemzug beinahe klassische Ensemblestrukturen entstehen und löst sie sofort wieder auf. Die inzwischen unverkennbare Körpersprache Einzelner nutzt er, um den Mustern immer wieder neue Anmutungen zu geben.
Pianist und Tänzer improvisieren zur „Mondscheinsonate“
In „Falling a/part“ erkundet Dominique Dumais auf der Basis des Dädalus/Ikarus-Mythos die Möglichkeiten der Improvisation: „Wer hat noch nie geträumt, aus dem Labyrinth davonzufliegen“, fragt sie im in englischer Sprache eingespielten Prolog. Apropos Prolog: Wie ziel- und heimatlose Ausreißer mäandern die Ensemblemitglieder lange vor Beginn der Vorstellung durch das Foyer und um die Besucher herum, magisch gesteuert nur durch die an Beethoven angelehnten Klänge zwischen Klassik, Klezmer und Jazz von Christina Bernard (Saxofon) und Kevin Sauer (Akkordeon).
Zu „Falling a/part“ improvisiert Lukas Großmann (alternierend mit Valentin Findling) am Flügel auf der Bühne über die „Mondscheinsonate“, das Ensemble improvisiert auf der Basis des zuvor entwickelten Bewegungsmaterials. Der Titel lässt mindestens zwei Deutungen zu: Fallen und Zerfallen. So wie sich die Sonate in Jazzharmonien und swingende Ostinati auflöst, zerfällt das Stück zu Momentaufnahmen. Das ist dann spannend, wenn etwa Marcel Casablanca oder Clara Thierry die Kontrolle über ihre Körper scheinbar vollkommen der Musik überantworten. Allerdings geht darüber – wie in der Musik – der dramaturgische Faden verloren, was für die einzige Länge des Abends sorgt.
Verblüffend passende Bewegungen zu den Motiven der Musik
Kevin O'Days „Landscape No. 5“ zu Beethovens Fünfter, Neubearbeitung einer Mannheimer Produktion von 2009, ist dann wieder opulentes, kurzweiliges, buntes Erzähltheater. Die Platten des Anfangs bilden nun eine wandelbare Landschaft, in der das Ensemble verblüffend passende Bewegungen zu den Motiven der Musik findet. Jetzt geht es um Stillstand und Schwung, um Aufbruch und Verharren, um Freiheit und um Macht. Hoch über dem Geschehen, punktgenau zum Schicksalsmotiv ausgeleuchtet, thront bedrohlich eine Göttin/Fürstin/Magierin (Clara Thierry), die sich als Diana entpuppt, deren Pfeile den unglücklichen Aktäon (Tyrel Larson) allerdings nicht töten können. Zum Schluss wird er ihr die Schleppe entreißen und so ein neues Zeitalter einläuten: Die Götter sind abgemeldet, jetzt übernimmt der Mensch die Macht.
Langer Jubel für Ensemble, Choreografie-Team und nicht zuletzt Dirigentin und Orchester.
Auf dem Spielplan bis März. Die nächsten Vorstellungen: 10., 24., 28. November, 19.30 Uhr. Karten unter Tel. (09 31) 39 08-124 oder karten@mainfrankentheater.de