
Es ist dieser Moment ganz zum Schluss, tatsächlich nur ein Augenblick, der klarmacht: Dieser Abend wird fortwirken. Die Musik ist verklungen, die Compagnie steht, über die ganze Bühne verteilt, mit dem Rücken zum Publikum. Applaus brandet auf. Da drehen die Tänzer noch einmal den Kopf und blicken zurück – direkt in die Augen des Zuschauers, so scheint es jedenfalls. Erst dann: Licht aus.
Mit „Chansons“ hat die neue Tanzcompagnie am Mainfranken Theater die Saison eröffnet. Und ganz offensichtlich die Herzen des Publikums gewonnen. Keine leichter Einstand für Dominique Dumais, die neue Tanzchefin, nachdem der Vertrag ihrer populären Vorgängerin Anna Vita zum Ende der vergangenen Saison unter dem Protest einer ergebenen Fangemeinde nicht verlängert worden war.
26 Chansons bilden 26 einzelne Geschichten und einen roten Faden
„Chansons“ ist so etwas wie Episoden- und Handlungsballett in einem – 26 Chansons etwa von Jeanne Moreau, Jeff Buckley, Carla Bruni, Léo Ferré, Edith Piaf, Grace Jones, Francis Cabrel, Nina Simone, Barbara, Leonard Cohen und natürlich Jacques Brel bilden in zwei Akten zwar 26 einzelne Geschichten, Dramen, Anekdoten, irgendwie entsteht schließlich aber doch so etwas wie ein roter Faden. Vielleicht, weil das Genre Chanson in all seiner Vielgestaltigkeit immer ganz nah an den grundlegenden Emotionen bleibt – oder, um es mit einem Titel von Jeanne Moreau („Le tourbillon de la vie“) zu sagen, weil es immer um den Strudel des Lebens geht.
Vielleicht aber auch, weil Dominique Dumais und Kevin O'Day, der die Position eines „Artist in Residence“ bekleidet, sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer von auffallend unterschiedlicher Statur verpflichtet haben, die jede und jeder eine ganz eigene, persönliche Ausstrahlung mitbringen beziehungsweise im Laufe des Stückes entfalten. Und die (nicht erst zum Schluss) doch eine Einheit bilden, die immer wieder verblüffende Wucht entfaltet.
Die Truppe durchläuft alle Stadien zwischen Vereinsamung und Pulk
Nur flüchtig, sozusagen pflichtgemäß, streift Dumais in der Neueinstudierung ihrer Choreografie, die sie 2010 für das Staatstheater Mannheim geschaffen hatte, das Klischee des Pariser Bistro, in dem sich die Boheme trifft, um zu lungern, zu feiern, zu lieben, zu streiten, zu kämpfen, zu lachen, zu weinen, zu verzweifeln und zu trösten.
Nach und nach entern die Tänzer die Bühne, jeder für sich, jeder in seiner Muttersprache vor sich hin rechtend (zehn Nationen sind in der Compagnie vertreten). Wie diese Fischschwärme, die sich bei Gefahr zu undurchdringlichen Blöcken verdichten können, durchläuft die Truppe alle Stadien zwischen Vereinsamung und Pulk. Immer wieder finden sich neue Konstellationen, immer wieder treten Solisten und Paare hervor.
Das ganze Spektrum zwischen winziger Geste und akrobatischem Effekt
Die Dynamik der Gruppenführung findet sich in der Körpersprache des einzelnen wieder – technisch wie schauspielerisch überaus anspruchsvoll, lotet Dominique Dumais unter dem Primat eines minutiösen Timings die Möglichkeiten zwischen winziger Geste und akrobatischem Effekt aus. Keine Bewegung ohne Richtung, keine Geste ohne Aussage.
Das ist atemberaubend, bewegend, witzig, auch mal pathetisch, immer aber echt. Das Duett von Clara Thierry und Dominic Harrison zu Jeff Buckleys Version von Leonard Cohens „Hallelujah“ ist ein erster hochintensiver Höhepunkt – ein Paar zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Abhängigkeit und Fluchtreflex. Es folgen weitere: Der handfeste Kampf zwischen Debora Di Biagi und Étienne Gagnon-Delorme zu Lhasas „El desierto“ (die Wüste). Das Machtspiel zwischen Viola Daus und Tyrel Larson zu Jacques Brels „La chanson des vieux amants“ (das Lied von den alten Liebenden). Die unglaublich anrührenden Duette von Marcel Casablanca und Dávid Kristóf. Oder das urkomische, meisterhaft getimte Duett von Debora Di Biagi und Anna Jirmanova zu Carla Brunis „La derniere minute“ (die letzte Minute).
Es ist ein idealer Einstand – Dominique Dumais unterwirft ihre Compagnie den Kräften einer ebenso wohldurchdachten wie tief empfundenen Natürlichkeit und erreicht damit ein Maximum an Freiheit und Ausdruck. Das Publikum honoriert diese Premiere – und jedes einzelne Ensemblemitglied – mit lang anhaltendem Applaus und einigem Jubel.
Weitere Vorstellungen bis in den Juli. Die nächsten: 10., 19., 27. Oktober. Karten: Tel. (09 31) 39 08-124 oder karten@mainfrankentheater.de