„Wer läuft, hat mehr vom Leben.“ „Laufen ist Medizin.“ „Laufen ist Ruhe in der Bewegung finden.“ Nur drei gängige Weisheiten aus dem schier unerschöpflichen Fundus von Erfahrungen, die sich um das Laufen ranken und ein Stück des Kultes sind, der darum gemacht wird. Wobei: Ist der „Laufkult“ heute vielleicht nur die Rückbesinnung auf die Normalität vergangener Jahrzehnte?
Mangelnde Bewegung und die Zivilisationskrankheiten
Auto statt Fußweg, Aufzug statt Treppe, E-Mail statt Besuch: Der Mensch in der technisierten Welt ist bequem und bewegt sich deutlich weniger als noch vor 50 Jahren. Das belegen alle Studien – und jeder Blick in die Wartezimmer von Arztpraxen. Dort schlagen sie auf, jene Zivilisationskrankheiten, die vielfach durch körperliche Aktivität verhindert oder eingeschränkt werden könnten: Rückenprobleme, Herz-/Kreislaufbeschwerden, Übergewicht, Arthrose, etc.
Laut Bewegungsstudie der Techniker Krankenkasse sitzen die Deutschen viel zu viel: 6,5 Stunden pro Tag. Auch nach Feierabend sind viele Menschen passiv: 42 Prozent finden ihren Tag so anstrengend, dass sie abends nur noch auf dem Sofa abhängen wollen – bei den 18- bis 39-Jährigen sogar mehr als die Hälfte (55 Prozent). Zwei Drittel der Bevölkerung bewegen sich im Alltag weniger als eine Stunde, die Hälfte betreibt nur selten oder nie Sport.
Weltgesundheitsorganisation empfiehlt 10 000 Schritte täglich
Prof. Olaf Hoos, wissenschaftlicher Leiter des Sportzentrums an der Uni Würzburg, formuliert es drastisch: „Sitzen ist das neue Rauchen.“ 10 000 Schritte pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation als Minimum an Bewegung, ein durchschnittlicher Büromensch kommt häufig nicht mal auf die Hälfte.
Die Würzburger Allgemein- und Sportärztin Natascha Kissling ist selbst begeisterte Läuferin. Nicht der Wettkampf oder schnelle Zeiten stehen für die vierfache Mutter – in jüngeren Jahren Leichtathletin – heute im Vordergrund, sondern die Freude an der Bewegung. In Zusammenarbeit mit dem Institut Predia betreut und behandelt sie Sportler genauso wie solche, die es noch werden wollen.
Zu viel Bewegung? Wenn es Läufer übertreiben...
Kissling kennt somit Typen, die für Segen, aber genauso den Fluch des Laufens stehen – dann nämlich, wenn das rechte, das gesunde Maß verloren geht. Wenn dem Körper extreme Belastungen zugemutet werden. Wenn es an der Einsicht fehlt, dass der Körper Ruhezeiten zur Regneration braucht, ehe er für die nächste Herausforderung bereit ist. „Weniger ist manchmal mehr“, hat Kissling bei etlichen Läufern beobachtet. Intensität und Umfang des Trainings müssen stimmen – „sonst läuft man in die Stagnation oder wird sogar schlechter.“
Selbst Ermüdungsbrüche sind bei Intensivläufern keine Seltenheit. Wer aber die richtige Dosis einhält und „vernünftig“ mit seinem Körper haushaltet, hält sich mit Laufen fit und gesund und ist weniger krankheitsanfällig. Kissling könnte eine ganze Liste von Organen und körperlichen Funktionen aufzählen, die durch regelmäßige Bewegung positiv beeinflusst werden.
Die vielen gesundheitlichen Effekte des Laufens
So werden beim Laufen 70 Prozent der gesamten Muskulatur beansprucht, was nicht nur für eine bessere Durchblutung sorgt. Der Muskelaufbau entlastet die Gelenke – und auch das Herz. Der Stoffwechsel wird aktiviert, der ganze Haltungsapparat gestärkt und die Gefäße profitieren.
Wer regelmäßig läuft, weiß es: Das Immunsystem wird stabiler, die Abwehrkräfte werden gestärkt, die Infektanfälligkeit sinkt. Und natürlich ist Bewegung auch eine Art Antidepressivum. Sport, sagt Olaf Hoos, wirke stimmungsaufhellend: „Wir haben Belege dafür, dass Sport als Therapie bei psychischen Erkrankungen in Verbindung mit medikamentöser Behandlung und Gesprächstherapie durchaus mithalten kann.“
Kreativität und Konzentration durch Laufen steigern
Stress abbauen, „den Kopf frei bekommen“, abschalten – das sind gerade beim Laufen in der Natur angenehme Effekte. Es gibt Jogger, die schon deshalb mit Smartphone laufen, um sofort alle guten Ideen aufzusprechen, die ihnen unterwegs einfallen. Kein Wunder – das Gehirn ist in dieser Zeit deutlich besser durchblutet.
Thomas Frobel, Sportwissenschaftler und Geschäftsführer im Würzburger Institut Predia ist überzeugt: „Laufen stärkt das Selbstwertgefühl und reduziert Ängste.“ Nicht nur deshalb arbeiten Firmen mit ihm im betrieblichen Gesundheitsmanagement zusammen. Stressgeplagten Führungskräften wird körperliche Aktivität für eine ordentliche Work-Life-Balance empfohlen. Daneben kann Sport ein wichtiger Integrationsfaktor im Unternehmen sein – vom Schichtarbeiter bis zum Abteilungsleiter.
Häufiger Einsteiger-Fehler: Von 0 auf 100...
Viele gute Gründe also. Warum fällt es trotzdem vielen schwer, ins Laufen zu kommen? Prof. Billy Sperlich, Sportwissenschaftler an der Universität Würzburg, forscht dazu seit Jahren theoretisch und mit Probanden. Eine zentrale Erkenntnis: Oft wollen Einsteiger zu viel in zu kurzer Zeit schaffen. Schnell sind sie k.o. und demotiviert. Auf den Körper hören, nicht in den Schmerz hineintrainieren, das Training reduzieren – „behutsam starten“ heißt die Zauberformel. Und die entscheidende Motivation sollte laut Sperlich sein: „Es tut mir gut.“ Das bessere Lebensgefühl also. Läufer sollten ihren Körper kennenlernen und Grenzen respektieren.
Hilfreich sei es, zunächst mehr Bewegung in den Alltag zu bringen. Sein Tipp: Günstigen Fitnesstracker zulegen und versuchen, sich den 10 000 Schritten täglich anzunähern. Das heißt erst einmal mehr gehen: Eine Straßenbahn- oder Bushaltestelle zu früh aussteigen, auf den Aufzug verzichten, spazierengehen, wandern oder walken. Oder mit dem Rad zu Arbeit fahren. Sperlich (40) warnt vor falschem Druck: „Es muss nicht gleich das Laufen sein.“ Selbst Gartenarbeit kann zu den 150 Minuten körperliche Aktivität pro Woche zählen, die der Wissenschaftler empfiehlt – „idealerweise in Blöcken von fünf bis zehn Minuten“.
Muskulatur erhalten bis ins hohe Alter
Wer einmal ins Laufen gekommen ist, wird vielfach belohnt. Aufbau und Erhalt der Muskulatur kann besonders für Ältere ein Gewinn an Lebensqualität sein. Sperlich ist überzeugt: „Wer Muskeln hat, steht auf, nimmt gern die Treppen, lässt das Auto stehen und wird im Alter weniger leicht stolpern.“ Insofern sollten schon Laufanfänger ihre Muskulatur pflegen – etwa mit gezielten Übungen am Trainingsende.
Um den Einstieg zu schaffen, braucht es ein vernünftiges Zeitmanagement. Sperlich weiß aus Erfahrung: „Die Stunde Bewegung muss Priorität, muss einen verbindlichen Platz im Tagesablauf haben.“ Das funktioniere nur ohne schlechtes Gewissen – die Zeit ist nicht vergeudet – und am besten in Abstimmung oder sogar gemeinsam mit Partner und Familie. Gerade im Alltagsstress könne die Laufstunde Wunder der Entspannung bewirken – und nachfolgende Aufgaben erledigen sich deutlich effektiver.
Und los geht's: So schaffen Sie den Laufeinstieg
30 Minuten am Stück joggen – so weit kann jeder innerhalb von acht Wochen kommen. Davon ist Sportwissenschaftler Billy Sperlich überzeugt. Sein Trainingsplan: zwei bis drei Einheiten pro Woche a 30 Minuten
1. Woche: 1 Minute joggen, 1 Minute gehen (wiederholen)
2. Woche: 2 Minuten joggen, 1 Minute gehen (wiederholen)
3. Woche: 3 Minuten joggen, 1 Minute gehen (wiederholen)
entsprechend in den Folgewochen weiter steigern. „In der neunten Woche sind 30 Laufminuten am Stück machbar“, sagt Sperlich.
Zusammen mit Thorsten Dargatz hat der Würzburger Sport-Professor 2017 das Buch „Laufen – das Einsteigerbuch. Basics, Motivation, Trainingsprogramme“ veröffentlicht. 128 Seiten, GU-Verlag, 12,99 Euro. Die Autoren zeigen die positiven Wirkungen des Laufens, geben Tipps zur Ausstattung, zur Technik, zur Ernährung und zeigen konkrete Übungen. (AJ)