Es ist so gekommen, wie es wohl kommen musste. Ausgerechnet zu seinem Jubiläum – er wäre am 6. September 100 Jahre alt geworden – hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ seinen Lieblingsfeind von einst wieder entdeckt: Franz Josef Strauß. Die angebliche Enthüllung, der frühere Bundesminister, CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident habe über Jahre hinweg von der deutschen Industrie Schmiergeld kassiert, lässt die alten Kontroversen um den zugleich bedeutendsten und umstrittensten bayerischen Politiker der bundesdeutschen Gründerjahrzehnte wieder aufleben. Wie zu seinen Lebzeiten so auch 27 Jahre nach seinem Tod: An FJS scheiden sich die Geister.
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Für die CSU und ihre Anhänger war und ist er die Identifikationsfigur schlechthin, eine Ikone, eine bayerische Urgewalt, aus der die Partei bis heute Kraft und Selbstbewusstsein schöpft. Seine Gegner sahen und sehen in ihm den Prototypen eines machtversessenen Politikers, dem fast jedes Mittel recht ist, der versucht, mit rhetorischer Wucht und messerscharfer Polemik alles niederzuwalzen, was sich ihm in den Weg stellt. Und irgendwie sieht es dieser Tage fast so aus, als fehle er beiden – seinen Anhängern und seinen Gegnern.
Sind es Scharmützel im Kampf um die Deutungshoheit der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik und Bayerns? Ist es schlicht Nostalgie? Oder schwingt da manchmal auch die sehr aktuelle Sehnsucht mit nach einem Politiker mit Ecken und Kanten?
Strauß zählt, so urteilt der Historiker Horst Möller, „zu den Problemfällen der politischen Urteilsbildung“. Das war schon für seine Zeitgenossen so. Seine markigsten Sprüche ließen dem Publikum keinen Spielraum. Da gab es oft nur Schwarz oder Weiß, Freund oder Feind, aber nichts dazwischen. „Ich will lieber ein kalter Krieger sein als ein warmer Bruder“ – man stelle sich vor, Horst Seehofer würde heute so etwas von sich geben. Oder Angela Merkel würde sagen: „Was wir hier in diesem Land brauchen, sind mutige Bürger, die die roten Ratten dorthin jagen, wo sie hingehören – in ihre Löcher.“
Es sind Sprüche aus den 70er Jahren, aus einer Zeit, als die Welt durch eine scharfe Grenze in Ost und West getrennt war. Diese Grenze verlief quer durch Deutschland. Aber auch innerhalb Westdeutschlands gab es einen tiefen ideologischen Graben. Was Demokratie zu bedeuten hat, war in der jungen Bundesrepublik noch nicht ausgefochten. Studenten und Gewerkschaften forderten mehr Mitbestimmung, Willy Brandt (SPD) hatte mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ einen historischen Wahlsieg errungen. Strauß trat für „Freiheit statt Sozialismus“ ein. Er witterte hinter jeder Systemkritik die kommunistische Gefahr. „Die Demokratisierung der Gesellschaft“, so zitierte ihn das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, „ist der Beginn der Anarchie, das Ende der wahren Demokratie. Wenn die Demokratisierung weit genug fortgeschritten ist, dann endet sie im kommunistischen Zwangsstaat.“
Es ist bekanntlich anders gekommen. Aber ganz so falsch lag Strauß nicht. Erst nach dem Fall der Mauer 1989 kam mit der Auswertung der Stasi-Akten deutlicher ans Licht, wie sehr die Agitation aus der DDR in die westdeutsche Linke und in die Friedensbewegung hineingewirkt hatte. Strauß war glühender Anti-Kommunist, so wie er auch – durch unabhängige Quellen belegt – ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus war. Seine demokratische Grundüberzeugung in Zweifel zu ziehen, war und ist unredlich.
Zu den spannendsten und schillerndsten Figuren der Nachkriegsgeschichte macht ihn schon der Umstand, dass er von Anfang an und dann vier Jahrzehnte fast durchgehend in vorderster Front dabei war. Der Metzgerssohn aus der Münchner Maxvorstadt, der klassische Philologie, Geschichte und Volkswirtschaft studiert und den Krieg im Rang eines Oberleutnants überlebt hatte, begann als stellvertretender Landrat in Weilheim-Schongau, wo er schon 1946 im Alter von gerade mal 30 Jahren zum Landrat gewählt wurde. Er war Mitbegründer des CSU-Kreisverbandes Schongau, wurde bald Landesgeschäftsführer und Generalsekretär der CSU. Er war Bundestagsabgeordneter, Minister in drei Bundesregierungen, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, CSU-Vorsitzender, bayerischer Ministerpräsident. Und er schaffte es auf dem Höhepunkt seiner Macht bis zum Kanzlerkandidaten der Union.
Strauß war die zentrale Figur in einer einzigartigen Reihe von vermeintlichen Affären und Skandalen. Jede angeblich neue Enthüllung aus seinem prall gefüllten Politikerleben – und seien es die Klagen über seinen Hang zum Alkohol, die seine Frau Marianne einem Tagebuch anvertraute – erregt bis heute Aufmerksamkeit. Doch er hat, was im ewigen Streit um den eigensinnigen Prozesshansl und wortgewaltigen Wüterich oft nicht beachtet wird, eine politische Leistungsbilanz vorzuweisen, die ihresgleichen sucht. Vieles, was er getan hat, wirkt bis heute nach – in Deutschland, in Bayern und in der Partei, die den Freistaat seit mehr als 50 Jahren regiert.
Es gehört heute zu den elementaren Glaubensbekenntnissen der CSU, dass Strauß maßgeblich an der Umwandlung Bayerns vom rückständigen Agrarstaat zum modernen Industriestaat mitgewirkt hat. Ebenso, dass er mit seinem Einsatz für Airbus dazu beigetragen hat, den zivilen Flugzeugbau nicht allein den US-Amerikanern zu überlassen. Und auch, dass er als junger Verteidigungsminister den Aufbau der Bundeswehr organisiert und mitgeholfen hat, ihn gegen massive Widerstände in der Bevölkerung durchzusetzen. Das ist nicht einfach nur parteipolitische Propaganda.
Auch wenn die CSU manchmal übertreibt – es trifft zu. Die Parteioberen nach ihm lagen und legen größten Wert darauf, dass sie diese Linie fortsetzen: von der Industrialisierung zur Technologisierung und neuerdings zur Digitalisierung. So etwas wie Airbus gegen Boeing konnte den US-Giganten des Digitalzeitalters – Microsoft, Apple oder Google – bisher allerdings nicht entgegengestellt werden.
Über andere Leidenschaften des Politikers Strauß wird in der CSU praktisch nicht mehr geredet. Hatte Strauß die Atomkraft nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl noch vehement verteidigt und sogar an der heftig umstrittenen Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf festgehalten, verabschiedeten sich CDU und CSU nach der Katastrophe von Fukushima binnen weniger Tage komplett von der Kernkraft.
Ähnlich scharf war ein anderer Schnitt. Die Amigo-Affäre, über die wenige Jahre nach dem Tod von Strauß sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Max Streibl, stürzte, wurde von der Opposition in Bayern auch als Auswuchs der alten Spezlwirtschaft unter Strauß gebrandmarkt. Edmund Stoiber, der neue Ministerpräsident, ging auf größtmögliche Distanz zu diesem System und phasenweise auch zu Strauß. Die bayerische Liebesbezeugung „A Hund is er scho“ gilt seither nicht mehr uneingeschränkt. Die Wertmaßstäbe und die Anforderungen der Gesellschaft an die Integrität von Politikern sind strenger geworden. Die Zeiten haben sich geändert.
Zu seiner Zeit war Strauß der Zeit oft weit voraus. Dass die CSU einmal eine Volkspartei wird, war ihr am Anfang nicht vorherbestimmt. Sie musste sich gegen die partikularistische Bayernpartei durchsetzen, Katholiken und Protestanten, Altbayern, Franken und Schwaben unter einen Hut bringen und neben Bauern und Bürgern auch Arbeiter für sich gewinnen. Strauß hatte sich von Anfang an auf die Seite des ersten Parteivorsitzenden Josef Müller – genannt „Ochsensepp“ – geschlagen, der den modernisierenden, sozial und konfessionell aufgeschlossenen Flügel anführte.
Schon bei einer Landesversammlung im Dezember 1946 in Eichstätt erntete er für eine programmatische Rede stürmischen Beifall. Er warnte davor, „einseitig in die Gefahr zu kommen, eine Bauernpartei zu werden“, und sagte: „Wenn wir die Städte verloren haben, müssen wir sie durch unser Sozialministerium zurückgewinnen.“
Wer Strauß heute einen Konservativen nennt, der muss wissen, dass er den damaligen Konservativen in der CSU viel zu modern war. Das zog sich durch die Jahrzehnte durch. Mehr als 30 Jahre später, als er gerade Ministerpräsident geworden war, beschloss die CSU im Landtag, den Sexualkundeunterricht in Bayern gesetzlich zu verankern – gegen eine nicht geringe Zahl konservativer Gegenstimmen in den eigenen Reihen.
Die CSU lebt bis heute davon, dass es ihr gelingt, einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen herbeizuführen. Dass es ihr besser gelingt als der Schwesterpartei CDU, hat viel mit Strauß zu tun. Er war kein Populist. Er war Pragmatiker mit feinem Gespür für das Machbare. Er war Gegner der neuen Ostpolitik Willy Brandts, fädelte aber trotz heftigen Widerstands von rechts den Milliardenkredit an die DDR ein, um humanitäre Erleichterungen für die Bürger durchzusetzen.
Er suchte den Kontakt zu den Führern des kommunistischen Ostblocks, zu Mao, zu Breschnew, zu Honecker. Kein CSU-Chef nach ihm ist so weit in die höchsten Kreise der Weltpolitik vorgedrungen. Und wenn er auch, wie nicht nur die „Spiegel“-Affäre zeigte, kein Freund der Pressefreiheit war – ein Freund der Freiheit, so wie er den Begriff verstand, war er sehr wohl.
Der Journalist Peter Siebenmorgen, der kurz nach dem Historiker Horst Möller, eine weitere große Biografie vorgelegt hat, schreibt: „So banal es auch klingen mag: Will man Leben und Streben von Franz Josef Strauß auf einen einzigen Begriff bringen, so fällt die Antwort denkbar einfach: Freiheit.“ Zum Beleg zitiert er die Grundlinie, die Strauß für die Erarbeitung eines Grundsatzprogramms der Partei vorgab: „Das wichtigste Gebot ist, den politischen Prozess offenzuhalten, keine Endlösungen anzustreben, nichts zu tun, was Handlungsalternativen ausschließt, ohne neue zu eröffnen.“
Beide Bücher können als Auftakt einer differenzierten Diskussion über Strauß gewertet werden. Doch Freunde wie Gegner pflegen, wie die jüngsten Debatten zeigen, ihren jeweils eigenen FJS-Mythos. Er bleibt Superstar und Dämon.
Zwei Bücher, zwei Blickwinkel
Wer sich eingehender mit Franz Josef Strauß beschäftigen will, hat die Qual der Wahl. Dieses Jahr sind zwei sehr umfangreiche, sorgfältig recherchierte Biografien erschienen, die sich um einen unvoreingenommenen Blick auf den Politiker und Menschen Franz Josef Strauß bemühen: Horst Möller, der ehemalige Leiter des renommierten Instituts für Zeitgeschichte in München, hat eine geschichtswissenschaftliche Biografie vorgelegt, die sich strikt an schriftlichen Quellen orientiert und sich jeder Spekulation enthält – ein sehr korrektes, dennoch sehr spannendes Buch. (Horst Möller: Franz Josef Strauß, Herrscher und Rebell, Piper Verlag, 832 Seiten; 39,99 Euro). Peter Siebenmorgen, Journalist und Politikwissenschaftler, geht aus einem etwas anderen Blickwinkel heran. Auch er bemüht sich um einen sauberen Umgang mit Quellen, aber er lässt Emotionen und Leidenschaften mehr Platz, kommentiert und interpretiert ausführlicher.
(Peter Siebenmorgen: Franz Josef Strauß, Ein Leben im Übermaß, Siedler Verlag, 768 Seiten; 29,99 Euro). Text: Jub