Die Spuren einer schrecklichen Nacht waren Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) am Morgen danach noch deutlich anzusehen: Mehr als vier Stunden hatte der Regierungschef am Vorabend in der Einsatzzentrale der Münchner Polizei in der Ettstraße verbracht.
Er hatte die quälende Unsicherheit hautnah gespürt, ob es nicht doch noch weitere Täter gibt, die möglicherweise im Besitz von Waffen durch die Stadt ziehen, oder sich irgendwo in einer Wohnung verschanzt haben. Er hatte mitbekommen, wie dort exakt 4310 Notrufe in den bangen sechs Stunden zwischen 18 Uhr abends und Mitternacht eingingen – gut viermal mehr, als sonst an einem 24-Stunden-Tag.
Notrufe, die weitere Schießereien meldeten: am Stachus, am Marienplatz, beim Hofbräuhaus, beim Mathäser-Kino, vor einer Zeitungsredaktion oder beim Jagdmuseum direkt neben dem Polizeipräsidium. Dazu mehrere Meldungen, dass bis zu drei Täter mit Langwaffen durch die Straßen zögen.
Meldungen, die sich allesamt als falsch herausstellten, von der Einsatzzentrale und den rund 2300 im Einsatz befindlichen Beamten – inklusive Spezialkräften des Bundes, anderer Länder und selbst aus Österreich – aber ernst genommen werden mussten. „Professionalität und Ruhe“ habe er dort erlebt, berichtete Seehofer nach einer eilig einberufnen Sondersitzung des bayerischen Kabinetts am Samstagvormittag – was seine ohnehin sehr große Hochachtung für die Arbeit der bayerischen Sicherheitsbehörden nur noch weiter gesteigert habe. Auch die Stadt selbst erholte sich am Morgen danach nur langsam vom Schock einer schrecklichen Nacht: Hunderte Menschen hatten in den Stunden der Unsicherheit nicht nur bei hilfsbereiten Privatpersonen einen geschützten Unterschlupf gefunden, sondern auch im Landtagsgebäude, im Innenministerium und sogar in der Staatskanzlei. Auf dem Odeonsplatz war ein großes Fest zum 500. Jubiläum des Reinheitsgebotes mit Hunderten Besuchern abgebrochen worden – die Menschen fanden im Innenhof des benachbarten Landwirtschaftsministeriums stundenlang Schutz. Auch das beliebte Tollwood-Festival im Olympiapark – unweit des Tatortes – wurde vorzeitig beendet.
Erst nach Mitternacht, als sich die Sicherheitslage langsam wieder entspannte, trauten sich viele Gestrandete wieder auf die Straße. Viele waren zu Fuß unterwegs nach Hause, weil die öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb noch immer eingestellt hatten. Überall im Münchner Zentrum waren noch immer Polizeistreifen zu sehen. Die ganze Nacht über waren in der Innenstadt die Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören. Als schließlich ein zunächst grauer Morgen Münchens schwärzeste Nacht seit langem ablöste, herrschte eine fast gespenstische Ruhe: Kaum Autos oder Menschen auf den Straßen, selbst die sonst so quirlige Fußgängerzone war am späten Samstagvormittag nur spärlich besucht. Dafür war die Polizei immer noch mit rund 800 Beamten im Einsatz – und auch an vielen zentralen Orten noch immer präsent.
Seehofer und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann versuchten, diese bedrückende Stimmung auf einer Pressekonferenz aufzugreifen, und die von den Ereignissen der letzten Woche verunsicherten Bürger in Bayern zu beruhigen (siehe Text unten). „In hoch komplizierten, schwierigen Dingen muss man aber auch die Geduld aufbringen, auf die Ermittlungsergebnisse zu warten“, mahnte Seehofer zur Besonnenheit.
Zu den hoch komplizierten Dingen gehören vor allem die Motivation des Täters für seine grausame Tat sowie mögliche psychische Störungen des 18-Jährigen. „Wir gehen davon aus, dass es sich um einen klassischen Amoktäter ohne politische Motivation handelt“, hatte Staatsanwalt Thomas Steinkraus bereits am Samstag gesagt. Eine These, die wie die psychischen Probleme von den Ermittlern am Sonntag bestätigt wurden.
Gefragt, ob er trotz aller offensichtlicher Unterschiede Gemeinsamkeiten mit dem Axt-Attentäter von Würzburg sehe, sagte Seehofer: „Würzburg war völlig anders als München.“ Er warne deshalb „vor vorschnellen Festlegungen“. Und Innenminister Herrmann verwies schon zu diesem frühen Zeitpunkt darauf, dass eher der fünfte Jahrestag des Breivik-Massakers in Norwegen den Täter beeinflusst haben könnte als das Zug-Attentat von Würzburg. Gemeinsam ist beiden Tätern aber offenbar eine unvorstellbare Brutalität: So soll – nach Angaben aus Münchner Regierungskreisen – der Münchner Amokläufer vor allem im Mc-Donald's-Restaurant einige seiner Opfer regelrecht hingerichtet haben.
Obwohl die Staatsregierung eine landesweite Trauerwoche für die neun Opfer des Todesschützen ausgerufen hat, in der die bayerischen Kabinettsmitglieder auf eine Teilnahme an allen öffentlichen Veranstaltungen oder Festen verzichten, soll die am Dienstag beginnende Kabinettsklausur am Tegernsee wie geplant stattfinden.
Beschlossen werden soll dort auch ein schon länger ausgearbeitetes Sicherheitskonzept, das laut Seehofer einen „Dreiklang“ aus mehr Personal für Polizei und Justiz, verbesserte Ausstattung, aber auch „Vorschläge zu rechtlichen Veränderungen“ umfassen soll. Ebenfalls auf der Klausur diskutiert werden könnte, wie die Behandlung von Jugendlichen mit psychischen Problemen verbessert werden kann. Am kommenden Sonntag ist zudem im Bayerischen Landtag ein staatlicher Trauerakt für die Opfer geplant.
Heftig diskutiert wurde am Tag nach der Tat auch die Rolle der sozialen Medien während der Stunden der Ungewissheit: Großes Lob von allen Seiten bekam vor allem der Twitter- und Facebook-Einsatz der Münchner Polizei: Sachlich, klar, sogar in Englisch und Französisch wurde dort über den Fortgang der Ereignisse umfassend informiert. „Diese Arbeit war vorbildlich und auch notwendig, um Ängste aus der Bevölkerung herauszunehmen“, lobte Minister Herrmann.
Gleichzeitig machten den Einsatzkräften nach eigenen Angaben aber viele Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken schwer zu schaffen: „Automatisches Teilen und Weiterverbreiten ist nicht hilfreich“, klagte Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä am Samstag – weil ungeprüfte Falschmeldungen Hysterie auslösen und die Arbeit der Polizei erschweren könnten. Im aktuellen Fall habe offenbar grundlos geschürte Panik etwa auf dem Stachus sogar zu Verletzten geführt.
Meist geschehe die Weitergabe falscher Informationen nicht mit bösem Willen, glaubt Minister Herrmann. Auch hätten Politik und Sicherheitsbehörden ein großes Interesse, dass Bürger Verdächtiges der Polizei melden und bei Ermittlungen helfen wollen. „Wir müssen aber schon überprüfen, inwieweit Leute meinten, etwas besonders Witziges zu tun, indem sie falsche Bedrohungen melden“, sagte Herrmann: „Wir müssen solchen Unfug leider sehr ernst nehmen.“
Bereits in der Nacht nach der Tat hatte die Münchner Polizei via Twitter dazu aufgerufen, Videos oder Bilder des Attentäters, der Opfer oder der Tat nicht zu posten, sondern zur Tat-Aufklärung direkt an die Polizei zu schicken. „An alle, die Bilder von Opfern veröffentlichen: HÖRT AUF DAMIT“, hieß es in einem Tweet um zwei Uhr nachts: „Habt Respekt vor dem Leid der Angehörigen.“